Das Jahr 1989 brachte ikonische Momente hervor. Es wird als Rückkehr zu einem ungeteilten Europa gefeiert. Doch zurück wohin? Im Gastkommentar widmet sich der Historiker Berthold Molden dieser Frage und der paradoxen Erinnerung daran. Lesen Sie auch den Gastkommentar von Helfried Carl zu Österreichs Unvermögen, sich auf die "neuen" Nachbarn einzulassen und Erhard Stackls Erinnerungen an die Samtene Revolution.

Das Jahr 1989 wird als freudebringender Wendepunkt der Geschichte erinnert. Österreich als Anrainerstaat des Eisernen Vorhangs nahm teil an der Euphorie und beglückwünschte sich zur Erfüllung einer historischen Mission, die oft in der Metapher vom Brückenbauer zwischen Ost und West gefasst worden war. Wer sich die historische Erzählung hinter diesem Jubelgedächtnis näher ansieht, entdeckt jedoch Gedächtnislücken.

Die gängigste Begründung für die angeblich besondere historische Eignung österreichischer Akteure, Ostmitteleuropa wieder "nach Europa zurückzuholen", bestand etwa in der gemeinsamen Erfahrung der Habsburgermonarchie. Nicht nur seien Infrastruktur, Verwaltung und das Bankenwesen schon vom Kaiser errichtet worden. Man verstehe die Menschen aufgrund der jahrhundertealten Verbindungen einfach besser. Dieses Narrativ blendet die Sichtweise in den Kronländern und der transleithanischen Reichshälfte aus, in deren Vorstellung sich diese Zeit vielfach als "Völkerkerker" eingeprägt hat.

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Mai 1989: Ungarische Grenzsoldaten schneiden ein Loch in den Eisernen Vorhang bei Hegyeshalom.
Foto: AP/Bernhard J. Holzner

Lückenhafte Erinnerungen

Noch ein Aspekt fällt unter den Tisch: dass nämlich die Verbindungen während des Kalten Krieges keineswegs völlig gekappt waren. Einerseits erhielt die Republik kulturelle Kontakte aufrecht. Vor allem aber war der österreichische Osthandel stets lebendig, betrieben nicht zuletzt von kommunistischen Treuhandgesellschaften und Unternehmern – viele von ihnen aus dem Exil heimgekehrte Überlebende des Holocaust.

Im Inneren dieser lückenhaften Erinnerung wirkt ein noch stärkeres Paradoxon. 1989 ist ein antikommunistischer Gedächtnisort. Er markiert den Triumph des Kapitalismus über den realen Sozialismus. Einige Zeit war sogar vom "Ende der Geschichte" die Rede, vom nun für unaufhaltbar gehaltenen Siegeszug der liberalen Demokratie. Das Ende des Kommunismus in Ostmitteleuropa fiel in die Hochzeit des Neoliberalismus.

Aufkommender Neoliberalismus

Auch hierzulande setzte sich diese Dogmatik durch. 1983 verlor die SPÖ nicht nur die absolute Mehrheit, sie nahm dann auch teil an der Unterwanderung des sozialmarktwirtschaftlichen Konsenses der Nachkriegsjahrzehnte. So vollzog sich die Wende von 1989 in einem Kontext, in dem Märkte wichtiger wurden als die Menschen, die doch von der Öffnung der Grenzen, der Globalisierung und der damit verbundenen Erosion aller bekannten Lebenskoordinaten verunsichert waren.

In Österreich war es damals die FPÖ, die am meisten von der Verunsicherung profitierte. Schon unmittelbar nach der Grenzöffnung wandelte sich die öffentliche Meinung in Österreich, was die befreiten Brüder und Schwestern in Ostmitteleuropa betraf. Waren diese zuvor als Unterdrückungsopfer bemitleidet worden, galten sie innerhalb weniger Wochen als Belästigung, potenzielle Kriminelle und bald als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Schon bald wurden die nun reisefreien Nachbarn als Belastung wahrgenommen.

Neue Allianzen

Andere weltpolitische Ereignisse wie die Kriege auf dem Balkan und am Golf trugen zur Beschleunigung der Entwicklung bei. 1993 hatte Österreich einen Nettozuwachs von 340.000 Menschen gegenüber 1989 zu verzeichnen. Die FPÖ reagierte darauf mit dem Volksbegehren "Österreich zuerst". Der Abwehrkampf gegen die proklamierte Bedrohung durch Zuwanderung war stets verknüpft mit der Behauptung, nur die FPÖ nehme die Sorgen der "einfachen Menschen" noch ernst. Immer mehr sozialdemokratische Wähler strömten ins nationale Lager, das sich später als "soziale Heimatpartei" gerieren sollte. Ob die begriffliche Nähe von "sozial" und "Heimat" zu "national" – "sozialistisch" beabsichtigt war, ist nicht nachgewiesen. Sehr deutlich nachweisbar ist jedoch der Schwenk vom antiklerikalen Deutschnationalismus hin zu einem Österreich-Patriotismus, der das Bekenntnis zur "deutschen Kulturnation" mit dem ausgerufenen Überlebenskampf der christlichen Leitkultur gegen den Islam verband. Dafür waren, im Gefolge der Anschläge vom 11. September 2001, bereits Strache, Kickl und Co verantwortlich. Diese neue FPÖ begeistert sich heute offen für autoritäre Politiker wie Putin und Orbán und schmiedet Allianzen mit neofaschistischen Führerfiguren wie Salvini.

Die wichtigsten Zutaten für dieses neoautoritäre, xenophobe und kulturprovinzielle Erfolgsrezept lassen sich auf die weltpolitische Wende von 1989 zurückführen. Der triumphale Neoliberalismus vollführte im ehemaligen Ostblock teils brutale Umbrüche, während er in Österreich und Westeuropa bestehende Solidarsysteme erodierte. Daraus resultierende Ängste konnte die zunehmend extreme Rechte am besten in Wahlerfolge verwandeln.

Vorwärts zurück

Daher ist 1989 eigentlich ein äußerst paradoxer Erinnerungsort, dessen Widersprüchlichkeit in der Rückwärtsgewandtheit liegt. Gefeiert wird die Rückkehr in eine Welt vor der Trennung durch den Kalten Krieg. Doch diese war eine Welt der Diktatur und des Rassismus, bis hin zum Genozid. Gewiss erklärte man die Rückkehr zum Neubeginn, doch die Geschichte hat ihren eigenen Sinn für ironische Volten, und die Beschwörung der Rückkehr in eine idealisierte europäische Gemeinschaft „vor dem Kommunismus“ ging einer tatsächlichen Renaissance autoritärer Tendenzen voraus. Die neue, in Entsolidarisierung begriffene Welt förderte neonationalistische Diskurse. Im lauten Gedenken an diesen Moment bleibt die widersprüchliche Spannung zwischen der Rück- und der Vorwärtsgewandtheit ungenannt, denn sie würde den mutmaßlichen Triumph 1989 und damit den geschichtspolitischen Zweck der Jahrestage unterminieren. (Berthold Molden, 16.11.2019)