Klug und effektvoll im Wiener Schauspielhaus umgesetzt: "Im Herzen der Gewalt" von Édouard Louis.

Foto: Matthias Heschl

Internationale Bestseller landen zeitverzögert – und immer schneller, als man denkt – auch auf den Spielplänen der Theaterhäuser. Aus einem bereits akklamierten Prosawerk eine adäquate Spielfassung zu bauen scheint attraktiver, als sich auf die oft sperrige und sprachkomplexe zeitgenössische Dramatik zu verlassen. Der französische Autor Édouard Louis ist so ein Fall.

Alle drei von feuilletonistischem Donnergrollen begleiteten Bücher des kürzlich 27 Jahre alt gewordenen Shootingstars werden soeben von Dramaturgen zerpflückt und zu tauglichen Bühnenfassungen umgearbeitet. Das war schon bei Michel Houellebecq so, ebenso bei Virginie Despentes ("Das Leben des Vernon Subutex"). Auch bei Didier Eribons "Rückkehr nach Reims". Sie alle befassen sich so unerbittlich, fiebrig und konkret mit den Miseren der Gegenwart, dass Theater daran einfach nicht vorbeikommen.

Zwei Inszenierungen von Werken Édouard Louis’ gastieren derzeit in New York City, darunter Im Herzen der Gewalt von der Berliner Schaubühne, die im Sommer 2018 den Startschuss für die Bühnentour gab. Ivo van Hove kommt im April nächsten Jahres in Amsterdam mit Wer hat meinen Vater umgebracht heraus. Und gleich drei Édouard-Louis-Premieren haben in diesem November auch die österreichischen Spielpläne zu bieten: das Wiener Schauspielhaus, das Volkstheater und das Schauspielhaus Salzburg.

Sozialer Ausschluss

Sie alle arrangieren den jeweiligen Text für sich neu, das Volkstheater etwa mischte Wer hat meinen Vater umgebracht Motive aus Louis’ autobiografischem Debütroman "Das Ende von Eddy" bei, und das Salzburger Schauspielhaus (Premiere ist am 28. 11.) verschneidet das Vater-Pamphlet mit einem ähnlich politischen Text der französischen Autorin Stéphanie Chaillou. Die französische Dramatik, die hierzulande lange von Komödienkönnern wie Joël Pommerat oder Yasmina Reza dominiert wurde, ist derzeit also entschieden auf Konfrontationskurs.

Als "konfrontative Literatur" bezeichnet der als Arbeitersohn in einem Kaff in der Picardie geborene Édouard Louis auch sein Schreiben; es wurde vom Missstand des am eigenen Leib erfahrenen sozialen und ökonomischen Ausschlusses entfacht. Klasse, Sexualität, Scham, Intellektualität sind die Themen seiner autobiografischen Literatur, die eine neue politische Verantwortlichkeit einfordert, ein Ende der Austeritätspolitik, und zugleich eine neue linke Bewegung ersehnt.

Dramatisches Manko des Textes

Alle französischen Staatspräsidenten der letzten Jahre, von Jacques Chirac bis Emmanuel Macron, werden in Louis’ jüngstem Buch "Wer hat meinen Vater umgebracht" namentlich zur Verantwortung gezogen. Im Volkstheater, wo eine hauseigene Bühnenfassung am Freitag Premiere hatte, wird gegen die in Gold gerahmten Präsidentenkonterfeis am Ende Anklage erhoben.

Regisseurin Christina Rast hat den Monolog, eine an der proletarischen Erwerbsbiografie des eigenen Vaters entzündete Anklage der Politik, als großes Objekttheater aufgezogen, in dem der Vater als überlebensgroße, aber leblose und nur mühsam zu bewegende Stoffpuppe die Bühne (Franziska Rast) dominiert.

Diese sich jeden Naturalismus ersparende Ästhetik gerät aber schon bald ins Stocken, aufeinanderfolgende Ideen der Verfremdung (Beavis and Butt-Head-Klappmaulgesichter; Kamerabildwackeln; lautmalerisch abgebildete Gewalt etc.) führen zur Verzettelung. Ein großes Holzgerüst mit Flaschenzügen bleibt schlussendlich gar sinnleeres Dekor. Details türmen sich aufeinander ohne rechten Zweck, was auch dem dramatischen Manko des Textes geschuldet ist.

Homophobe Muster

Der deutlich bessere, auch theatertauglichere Text von Louis ist denn auch Im Herzen der Gewalt. Er handelt von einer Vergewaltigung, die dem Vergewaltigungsopfer wie durch ein Brennglas die homophoben und rassistischen Muster seiner selbst wie seiner Umgebung schmerzlich spürbar macht. Die clevere Struktur des Romans, in der sich Erzählweisen offensiv konkurrieren und kommentieren, setzt Regisseur Tomas Schweigen am Schauspielhaus Wien leichthändig um: ein hervorragender Mittelbühnenabend.

Einzelne Zimmer werden im nahtlosen Anschluss von rechts nach links auf die Bühne geschoben; die in ihnen ablaufenden Szenen werden jederzeit vom Erzähler heraußen kommentiert oder unterbrochen. Manchmal muss er dafür selber aus der Szene heraussteigen.Dabei wird es möglich, naturalistisch erspielte, drastische Momente (Gewaltszenen) bis zur Spitze zu treiben, sie im Handumdrehen aber, wie bei Cuts am Filmset, auch wieder zu entlasten. Taktisch klüger kann man diesem Stück Literatur auf der Bühne kaum begegnen.

Das theatralische Potenzial von Im Herzen der Gewalt wird noch einige Fassungen nach sich ziehen. Derzeit arbeitet Édouard Louis zwar an einem neuen Roman, doch hat er seine Affinität zum Theater schon mehrfach einbekannt. Zuletzt hat er zwei Stücke der kanadischen Autorin Anne Carson übersetzt (Antigonick und Norma Jeane Baker of Troy). Dass er bald ein eigenes Theaterstück schreibt, ist also alles andere als ausgeschlossen. (Margarete Affenzeller, 17. 11. 2019)