Von links nach rechts: 250.000 Tschechinnen und Tschechen forderten den Rücktritt ihres Premiers. Die Gelbwesten in Frankreich begingen ihren Jahrestag mit Krawallen.

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Diesmal war nicht die Champs-Élysées an der Reihe, sondern der Place d’Italie im Südosten von Paris. Hunderte Vermummte schlugen dort am Samstag alles kurz und klein, was ihnen vor die Brechstangen kam. Sie steckten Autos in Brand, zerstörten Bushäuschen und Monumente, schlugen an sich bruchsichere Scheiben des lokalen McDonald’s ein. Sogar die Feuerwehr wurde attackiert. Die Polizei konterte mit Tränengas und mobilen Einsatzgruppen. 155 Personen kamen in Untersuchungshaft.

Innenminister Christophe Castaner bezeichnete die Randalierer als „Schläger“, „Lumpen“ und „Barbaren“. Gemeint war das auch als Antwort auf Linkenchef Jean-Luc Mélenchon, der die Polizeikräfte früher „Barbaren“ genannt hat. Ihre Gummi- und Schreckschussmunition hat im einen Jahr, das die Proteste nun schon anhalten, insgesamt 24 Demonstranten Augen ausgeschossen und fünf weitere eine Hand gekostet.

Außerhalb von Paris ging es am Wochenende friedlicher zu. In Südfrankreich blockierten „gilets jaunes“ wie früher schon Kreisverkehre und eine Autobahnausfahrt. Allerdings waren sie zehnmal weniger zahlreich als am 17. November 2018, als landesweit 280.000 Gelbwesten auf die Straße gegangen waren. In Paris setzten sie die Aktionen am Sonntag fort, indem sie unter anderem das bekannte Kaufhaus Galéries Lafayette besetzten.

Rasend statt wütend

Nach einem Jahr scheinen die verbliebenen Gelbwesten stärker politisiert, wenn nicht radikalisiert. Eine Pariser Demonstrantin erklärte, sie sei „nicht mehr nur wütend, sondern rasend“. Von den Gewaltakten wollte sie sich nicht distanzieren. Ein älterer Neonwestenträger ärgerte sich hingegen: „Die Schläger hindern uns am Demonstrieren.“ Medien würden nur Gewaltbilder zeigen.

Die Gelbwesten-Pionierin Priscillia Ludosky sprach am Sonntag von „einem traurigen Geburtstag“. Sie warf Macron vor, er setzte sich über die Bewegung hinweg, obwohl deren tiefere Ursachen keineswegs beseitigt seien.

In der Bevölkerung verspielte die führungs- und orientierungslose Bewegung viel Kredit, nachdem Macron ihre Forderung nach Rücknahme einer Benzinsteuererhöhung erfüllt hatte. Die Zustimmungsquote ist von 80 Prozent vor einem Jahr auf gut 50 Prozent gesunken. Eine klare Mehrheit von 63 Prozent der Befragten spricht sich zudem gegen die gewalttätigen Samstagsdemos aus.

Pariser Medien fragen sich generell, ob der Jahrestag der „gilets jaunes“ das letzte Aufflackern einer zunehmend diskreditierten Bewegung war – oder vielleicht eher der Auftakt zu einem „heißen“ Jahresende in Frankreich. Ab 5. Dezember organisieren die Eisenbahner nämlich einen harten Streik, um gegen Macrons Pensionsreform zu protestieren. Das Spitalpersonal ist schon vergangene Woche auf die Straße gegangen, und nach der versuchten Selbstverbrennung eines Studenten gärt es auch an den Unis. Mélenchons Unbeugsames Frankreich und die Kommunisten versuchen, einen breiten Sozialkampf gegen die Staatsführung zu zünden.

Gebremster Eifer

Macron muss ebenso zur Kenntnis nehmen, dass die Wirkung der 17 Milliarden Euro, die er Anfang des Jahres in Form von Steuersenkungen und Mindestlohnerhöhung lockergemacht hat, weitgehend verpufft ist. Für kommenden Mittwoch verspricht er den Spitälern bereits neue Zugeständnisse, wohl erneut in Milliardenhöhe. Die schon 2017 versprochene Pensionsreform hat er bisher nicht einmal vorgestellt.

Nach einem Jahr Sozialkrise in Frankreich drängt sich deshalb das Fazit auf, dass die Gelbwesten zwar inhaltlich wenig erreicht haben – politisch aber haben sie Macron völlig destabilisiert und seinen Reformeifer gebremst. Vom hohen Ross gefallen, schwankt der junge Präsident, der die Krise nicht hat kommen sehen, zwischen starken Worten und fast devoten Auftritten. Beides wirkt reichlich künstlich. Und es zeugt von einer großen Angst vor dem heraufziehenden Sozialkonflikt. Insofern war die Gelbwesten-Krise für Macron womöglich nur ein Anfang. (Stefan Brändle aus Paris, 18.11.2019)