Fünf Teigtascherlfabriken wurden in den heurigen Sommermonaten ausgehoben.
Foto: Heribert CORN
In ihnen herrschten teils befremdliche Bedingungen.
Foto: Heribert CORN

Ziyi Weng* besitzt kein einziges Dokument, das auf ihre Identität schließen lässt. "Wie mein Leben in Österreich aussieht?" Weng lacht trocken. "Es ist hart." Mit kleinen Schritten betritt sie den Behandlungsraum bei Ambermed, einer Stelle für ambulante medizinische Versorgung für Menschen ohne Versicherungsschutz. Sie setzt sich auf die weiße Ledercouch und sagt etwas auf Chinesisch in Richtung Übersetzerin. Sie habe Angst bei der Sache. "Angst, mit dem, was ich erzähle, der chinesischen Community zu schaden".

Erst ein paar Monate ist es her, dass die Augen aller in Österreich auf die illegalen chinesischen Teigtascherlfabriken gerichtet waren. Elende Produktionsstätten und düstere Küchen, in denen tonnenweise Tiefkühlkost unter grausigen Bedingungen hergestellt wurden. Bilder von versifften Holztruhen, von zerfledderten Schlafstätten zwischen Kühlschränken und Krautköpfen und von Chinesen in Unterhosen machten die Runde und fügten sich damit zum Bild einer ausgebeuteten Bevölkerungsgruppe zusammen. Einen Kontrast dazu bilden die chinesischen Touristen, die mit Kameras den Stephansplatz füllen oder am Naschmarkt Essen aus ihrer Heimat kaufen.

Die ganze Bandbreite menschlicher Schicksale

"Die ‚chinesische Community‘ gibt es hier nicht", sagt Sinologin Fariba Mosleh. Der Naschmarkt im fünften Bezirk in Wien sei zwar ein Hotspot, ein Chinatown wie in anderen Großstädten gebe es hier aber nicht, sagt Mosleh – trotz einer Jahrzehnte währenden Diskussion, ob ein Drachentor den Beginn der Kettenbrückengasse schmücken soll. Dennoch ist die chinesische Gemeinschaft mit einer Vielzahl an Vereinen, Schulen und mit einer Wochenzeitung auf Mandarin gut organisiert. Unternehmer vernetzen sich in der Autrian Chinese Business Association, und im 22. Bezirk gibt es eine Chinesisch Evangelikale Kirchengemeinde. Die Community bildet, von erfolgreichen Geschäftsleuten bis zu Opfern von Menschenhandel, die ganze Bandbreite an menschlichen Schicksalen ab.

Etwa die Hälfte der chinesischen Staatsbürger in Österreich ist in der Gastronomie tätig.
Foto: Christian Fischer

Die ersten Chinesen wanderten schon 1780 nach Österreich ein, weiß Gerd Kaminski, Präsident der Österreichisch-Chinesischen Gesellschaft. "Richtig los ging es aber erst 1981, als in China die Reisefreiheit erklärt wurde."

Lange Zeit kamen die chinesischen Einwanderer fast ausschließlich aus der Provinz Zheijang im Osten Chinas, sie flüchteten vom schlecht bebaubaren Land und aus der Armut. Viele eröffneten Chinarestaurants. "Wer damals Anteile an einem Restaurant hatte, bekam von den österreichischen Behörden sehr leicht eine Aufenthaltsgenehmigung", sagt Kaminski.

Verzehnfachung der Chinalokale

"Viele waren keine Gastronomen, beteiligten sich aber an einem Chinarestaurant, um Papiere zu bekommen." Aus 120 Chinarestaurants in Wien Mitte der Achtzigerjahre wurden bis Ende der 1990er-Jahre 1000.

Anshen Chen kam im Zuge der chinesischen Öffnungspolitik nach Österreich.
Foto: Christian Fischer

Anshen Chen kam 1983 Österreich. Der damals 22-Jährige bekam ein Stipendium der chinesischen Regierung, die im Zuge der Öffnungspolitik Studenten ins Ausland schickte. Nach einem Studium an der Universität für Bodenkultur sattelte er um auf die Gastronomie. "Im Nachhinein war das die richtige Entscheidung", sagt der heute 58-Jährige. Sein erstes Lokal eröffnete er in der Vösendorfer Shopping City Süd. Immer wenn in einem Einkaufszentrum ein Kino aufgesperrt wurde, eröffnete Chen dort ein Restaurant. Mittlerweile führt er 17, darunter das traditionelle Griechenbeisl in der Inneren Stadt. Die Zeit der klassischen Chinarestaurants sei vorbei, meint er. "Als ich nach Österreich gekommen bin, waren 80 Prozent der Chinesen, die hier lebten, in der Gastronomie tätig. Heute ändert sich das", sagt Chen.

Laut Statistik des AMS arbeiten heute noch knapp die Hälfte der selbstständig und nicht selbstständig erwerbstätigen Chinesen in der Gastronomie. Arbeitslos gemeldet waren 2018 nur 341 Chinesen. Die Arbeitslosenquote unter Chinesen beträgt 4,9% und ist damit in etwa so hoch wie unter Österreichern. "Es gibt ein chinesisches Sprichwort das heißt: Arbeite fleißig und lebe sparsam.", sagt Chen.

Chinesen unter der Wahrnehmungsgrenze

Doch wer genau sind "die Chinesen" in Österreich? Laut Statistik Austria leben gut 13.000 chinesische Staatsbürger in Österreich. Diese Zahl beinhaltet freilich nicht ehemalige Chinesen, die den Pass gewechselt haben. Auch Asylwerber sind nicht inbegriffen; 2018 wurden 278 Asylverfahren von Chinesen entschieden, die Hälfte davon negativ. Außerdem fehlen Menschen wie Weng, die unter der Wahrnehmungsgrenze der Behörden leben.

Viele Undokumentierte sind für die Öffentlichkeit kaum sichtbar.
Foto: Christian Fischer

"Ich verlasse die Wohnung nie, außer um nach Arbeit zu suchen, Essen zu kaufen oder zum Arzt zu gehen", sagt Weng, nun redseliger als zu Beginn des Gesprächs in den Ambermed-Räumlichkeiten. Die 43-Jährige stammt aus der Provinz Si Chuan, bekannt für ihr scharfes Essen. Dort hat sie als Masseurin gearbeitet und 2013 mit ihrer Familie ein kleines Haus gebaut. Kurz bevor es fertig war, erklärte es die Regierung für "illegal". Das Haus wurde abgerissen, sie stand auf einem Berg Schulden. Bis sie im Internet eine Homepage entdeckte, auf der angepriesen wurde, dass man mit Arbeit in Europa bis zu 1300 Euro im Monat verdienen könne. Wenn das stimmt, könnte sie viel Geld nach Hause schicken, dachte sie damals, bevor sie die Nummer kontaktierte. Zwei Jahre ist das nun her.

Wie sie nach Wien kam, möchte Weng nicht sagen. Nur so viel: Mehrere Tausend Euro habe sie gezahlt. Nach ihrer Ankunft wurden ihr die Dokumente abgenommen, man brachte sie zu einer Familie, in der sie als Hausmädchen zu arbeiten begann. Nach wenigen Tage wurde sie entlassen, seitdem ist sie auf Jobsuche. Nicht viele beschäftigen jemanden ohne Dokumente. In Chatgruppen der Plattform Wechat, des chinesischen Whatsapp, tauschen sich Chinesen ohne Papiere aus, vermitteln einander Jobs und günstige Schlafplätze. Für ein Bett in einer Wohnung mit mehreren anderen bezahlt Weng 150 Euro im Monat, sie wechselt die Unterkunft häufig. Ansonsten lebt sie von einem Euro am Tag. Alle paar Tage kauft sie ein Kilo Weizenmehl und kocht daraus mit Wasser und Salz chinesische Dampfknödel.

Schweigsame Opfer

Bei der Abteilung für Ermittlungen, Allgemeine und Organisierte Kriminalität im Bundeskriminalamt registriert man bis dato keinen Anstieg der Schleppungen von Chinesen. Die Zahl der illegal Eingereisten, die von der Polizei aufgegriffen werden sinkt, 2018 waren es knapp 800. Bei Menschenhandelsdelikten aber sind Chinesen am häufigsten tatverdächtig: in 32 von 96 angezeigten Fällen. Doch von chinesischen Clans oder Banden will man bei der Behörde nicht sprechen. "Natürlich gibt es einen Organisationsgrad hinter den Tätergruppen", sagt Abteilungsleiter Andreas Holzer. Wie sich diese nennen, sei für die Ermittlungen egal: "Wir machen eine kühle Analyse: Gibt es eine Bandenstruktur, ist das organisiert? Und damit operieren wir."

Seit 2016 arbeite man eng mit den chinesischen Behörden zusammen, sagt ein Sprecher des Bundeskriminalamts. Auf den gegenseitigen Austausch ist man stolz.

Österreichs Ermittler können auch Erfolge vorweisen. Etwa die Operation "Seqing": Anfang 2017 berichtete das Bundeskriminalamt, dass ein chinesischer Menschenhändlerring ausgeforscht werden konnte, 150 Opfer, allesamt Chinesinnen, die zur Prostitution gezwungen wurden, wurden befreit. Oder der Fall "Snakeheads", bei dem im Vorjahr ein 36-jähriger Chinese verurteilt wurde, der Mitglied einer chinesischen Mafiagruppe gewesen sein soll. Gemeinsam mit drei anderen "Snakeheads" soll er einen jungen Mann und seine Freundin ermordet haben, die bei der Gruppe in Ungnade gefallen waren. Nur: Zwischen Tat und Urteil vergingen 18 Jahre. Und von den 150 befreiten "Seqing"-Opfern wollte keine Einzige aussagen.

Monatelange Ermittlungen

"Gerade im Bereich Schlepperei dauern die Ermittlungen Monate", sagt Oberstleutnant Michael Renghofer vom Landeskriminalamt Niederösterreich. Und: "Ja, es gibt bei chinesischen Tätern hierarchische Strukturen und organisierte Kriminalität, Parallelen zur Mafia", sagt Renghofer. "Aber wir haben kein Chinaproblem, kein Problem mit chinesischen Schleppern oder Menschenhändlern."

Vom Massagestudio bis zum Bordell: Prostitution ist in China streng geregelt, in Österreich für viele der Brotjob.
Foto: Christian Fischer

Die Ausbeutung chinesischer Bürger erfolgt an vielen Orten, in der Gastronomie genauso wie in Massagestudios. Elf Prozent der Klientinnen bei Lefö-IBF, der Interventionsstelle für Betroffene von Frauenhandel, sind Chinesinnen – eine Zahl, die steigt. Man bräuchte doppelt so viele Ressourcen, um mehr von ihnen schon auf der Straße zu erreichen, heißt es bei Lefö-IBF. Die meisten seien illegal im Land, was Täter als Druckmittel einsetzen, sagt Lefö-IBF-Leiterin Evelyn Probst. Da in China Prostitution streng reglementiert ist, befürchten die Frauen, in der Heimat inhaftiert zu werden.

Teigtascherl und Tierkadaver

Auch zwei Frauen, die in einer Teigtascherlfabrik gearbeitet haben, wurden von der Polizei wegen Verdachts auf Arbeitsausbeutung an Lefö-IBF vermittelt. Sie nahmen das Angebot nicht an. Finanzpolizei und Marktamt entdeckten die Fabriken vor allem dank Hinweisen aus der Bevölkerung. Sechs Anzeigen gingen ein, fünf davon waren ein Treffer, berichtet die Finanzpolizei. Als die mediale Aufmerksamkeit abebbte, gingen auch die Hinweise zurück. Im Marktamt glaubt man, dass irgendwo in Wien noch weiterproduziert wird.

Jene Tonnen an Teigtascherln, die im Zuge der Ermittlungen beschlagnahmt wurden, wurden an die jeweiligen Bezirksämter übergeben. Diese müssen öffentlich bekanntgeben, dass sie in Gewahrsam sind. Meldet sich daraufhin niemand, wird die beschlagnahmte Ware "unschädlich" gemacht, sagt Marktamt-Sprecher Alexander Hengl: "Die Ware wird der Tierkadaververwertung zugeführt." Was mit den Teigtascherln eigentlich hätte passieren sollen, weiß niemand so recht. "Teilweise wurden Asia-Shops beliefert, darüber hinaus gibt es keine neuen Erkenntnisse", heißt es seitens der Finanzpolizei.

Die Teigtaschen landeten in der Tierkadaververwertung.
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Gegen die Betreiber der Fabriken laufen diverse Verfahren.
Foto: BMF

Restaurantbesitzer Chen, der schon vor drei Jahrzehnten die Forstwirtschaft gegen die Gastronomie getauscht hat, ist schockiert. "Ich habe nicht gewusst, dass es solche Produktionen gibt", sagt er, "Ich finde das ungeheuerlich." Die meisten Restaurants produzieren Teigtaschen selbst, sagt er: "Ich kann mir nicht vorstellen, wer diese Ware kaufen sollte."

Ekzeme von der Produktion

Und die Chinesen, die in den Fabriken arbeiteten, teilweise sogar schliefen? Zwölf Personen wurden insgesamt aufgegriffen. Vier davon sind mittlerweile aus Österreich ausgereist, berichtet das Innenministerium. Bei sieben sind Asylverfahren anhängig, eine wurde der Fremdenpolizei übergeben. Verfahren nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz, wegen nicht ordnungsgemäßer Anmeldung und wegen Tätigkeiten ohne Arbeitsberechtigung, laufen.

Ein Frau, die in einer Teigtascherlfabrik gearbeitet hat, war bei Ambermed, erzählt Medizinerin Yushen Lin. Sie behandelt Patienten dort ehrenamtlich. "Sie hatte Ekzeme, weil ihre Hände durchgehend feucht waren."

Vor wenigen Tagen musste sie Weng, der Frau ohne Papiere, sagen, dass sie einen sechs Zentimeter großen Tumor im Kopf hat. Sollte sie eine Operation brauchen, hofft Weng auf das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Dort werden Menschen ohne Versicherungsschutz gratis behandelt.

"Unter Chinesen hier hat jeder von dieser Teigtascherlsache gehört", sagt Weng mit ernster Miene. Dass die Sache medial solche Wellen schlug, findet sie ungerecht. "Wir Chinesen sind wirklich sehr brav. Obwohl das Leben für uns ohne Papiere hart ist, kaufen wir immer einen Fahrschein", sagt sie und zieht ein Öffi-Ticket aus der Tasche. (Johannes Pucher, Gabriele Scherndl, 15.12.2019)