Im Gastkommentar kritisiert die Bildungswissenschafterin und Psychotherapeutin Barbara Neudecker, dass in pädagogischen Einrichtungen "Programme" wie Original Play zugekauft werden, ohne dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst darüber klar werden, wie sie zu den vermittelten Themen stehen. Der Grund sind mangelnde Ressourcen – ein leicht lösbares Problem.

Angebote wie Original Play senden Kindern widersprüchliche Botschaften aus.
Foto: jaccqueline schneider

Ein Aspekt gerät in der Diskussion um das umstrittene Konzept des Original Play aus dem Blick, der weiter reicht als die Frage, ob das „ursprüngliche Spiel“ nun harmlos oder gefährlich ist. In der aktuellen Debatte werden zwei wichtige Themen verhandelt, mit denen sich die Pädagogik von jeher schwertut: Aggression und Sexualität. Schon Sigmund Freud wies darauf hin, dass die Erziehung Kinder auf diese für die kindliche Entwicklung so wichtigen Bereiche nur mangelhaft vorbereitet – als würde man Reisende einer Polarexpedition „mit Sommerkleidern und Karten der oberitalienischen Seen“ ausrüsten.

Heute sind pädagogische Einrichtungen wie Kindergarten oder Schule – mehr denn je – gefordert, klare Haltungen und pädagogische Konzepte für einen förderlichen Umgang mit kindlicher Aggression und Sexualität zu finden. Wissen und Expertise über externe Vereine „zuzukaufen“ kann ein Element in diesem Prozess sein. Noch wichtiger aber ist, dass die pädagogischen Fachkräfte in diesen Einrichtungen gemeinsam schlüssige und fachlich fundierte Konzepte entwickeln und im Alltag mit den ihnen anvertrauten Kindern leben. Denn von wem sollten Kinder mehr und besser lernen können als von den Pädagoginnen und Pädagogen, die sie gut kennen und zu denen sie bereits – anders als zu Original-Play-Apprentices – über längere Zeit eine Beziehung aufgebaut haben?

Verwirrende Botschaften

Fehlen diese Konzepte, besteht die Gefahr, dass auch grundsätzlich positive externe Angebote wie qualitätsvolle sexualpädagogische Projekte nicht nur keine oder wenig Wirkung haben, sondern Kinder verwirren und sie dadurch Schaden nehmen.

Beim Original Play werden Kinder darin gefördert, ihren Körper im Kontakt mit anderen lustvoll und spielerisch zu erleben. Auf der Matte darf man wild und frei sein und rangeln. Im pädagogischen Alltag erleben Kinder aber in der Regel, dass diese Qualitäten nicht geschätzt werden. Wer hilft den Kindern zu verstehen, warum man beim „ursprünglichen Spiel“ auf der Matte wild und körperlich sein darf, den restlichen Tag über aber nicht – und vermutlich auch nicht, wenn man an einem anderen Tag mit den betreuenden Pädagoginnen und Pädagogen zu einer Turneinheit im selben Raum auf denselben Matten ist?

Aufgehobene Grundbotschaften

Doch auch eine gründliche Erklärung reicht nicht immer aus, um diesen Widerspruch aufzulösen, dass Wildheit und lustvolle Körperlichkeit in manchen Situationen von Erwachsenen offenbar positiv bewertet werden, in anderen aber unterbunden und sanktioniert.

Ähnlich verhält es sich mit dem sexuellen Aspekt, der im körpernahen Spiel enthalten ist. Kinder werden heute schon früh darin unterstützt, ihre Körpergrenzen zu spüren und gegebenenfalls auch zu behaupten. Eine zentrale Botschaft der Sexualpädagogik ist, dass körpernahes Kuscheln und bestimmte andere Formen des Körperkontakts in Ordnung sind, wenn sie vom Kind ausgehen und ein Bedürfnis des Kindes nach Nähe und Körperlichkeit abdecken (und nicht ein Bedürfnis der Erwachsenen) – und dass sie bestimmten Personen vorbehalten sind, die das Kind gut kennt und gern hat. Beide Grundbotschaften scheinen beim Original Play aber aufgehoben zu sein.

Mehr Ressourcen

Muss es nicht verwirrend für – vor allem junge oder vulnerable – Kinder sein, von freundlichen, aber wenig vertrauten Erwachsenen vermittelt zu bekommen: „Was wir machen, ist okay, wenn du das möchtest?“ Und wie sollen sie diese Einladung unterscheiden können von jenen anderer Erwachsener, die vielleicht ebenso freundlich wirken, aber andere Absichten damit verfolgen?

In Zeiten der Ressourcenknappheit steigt auch in der Pädagogik die Tendenz, bestimmte Themen und Lerninhalte – vor allem im sozial-emotionalen Bereich – an Projekte und Initiativen von außen zu auszulagern. Dadurch bleiben sie von sonstigen Lernerfahrungen in Kindergarten oder Schule isoliert, und die Integration des Gelernten wird erschwert.

Die Lösung für dieses Problem wäre einmal mehr einfach: mehr Ressourcen, eine bessere personelle Ausstattung pädagogischer Einrichtungen und bessere Rahmenbedingungen für die Pädagoginnen und Pädagogen. Dann hätten sie mehr Zeit und Raum zu überlegen, welche Lernerfahrungen sie Kindern zum Thema Körperlichkeit vermitteln wollen und wie das im pädagogischen Alltag ohne widersprüchliche Botschaften umgesetzt werden kann. Spezifische externe Angebote könnten auch dann ergänzend hinzugezogen werden, aber die zentralen Lernerfahrungen würden die Kinder nicht mit Fremden machen, sondern mit den Personen, die dafür ausgebildet sind und zu denen sie bereits eine tragfähige Beziehung aufgebaut haben. (Barbara Neudecker, 19.11.2019)