Mixtur aus elektronischen und handgemachten Klängen: Kreidler (Detlef Weinrich und Kollegen) bei der Arbeit.

Foto: Andrej Topas

Auch Kinder, die in ihren ersten Erdenjahren mit viel frischem Krautrock gepäppelt wurden, erwachen irgendwann unsanft aus unpolitischen Träumen. Die Düsseldorfer Postrock-Veteranen von Kreidler hatten vor rund zweieinhalb Jahren ein fix und fertiges Album am Start: wie von ihnen gewohnt, ein bezauberndes Kabinett, vollgestellt mit klingelnden Modulen und sanft tuckernden Motoren. Dabei war Kreidler einmal nichts anderes als der Name einer schwäbischen Moped- und Mofaherstellerfirma.

Kaum eine deutsche Musikformation trug das Düsseldorfer Kling-Klang-Erbe behutsamer in die Zukunft als Kreidler. Die perkussiv schnatternde Musik des Quartetts enthielt die komplette DNA von Kraftwerk und Konsorten. Man genoss die Echos von Neu! und La Düsseldorf, das Vorwärtspreschen von Klaus Dingers wie mit verhängten Zügeln gespieltem Schlagzeug. Neo-Kraut, so nützlich wie nahrhaft. Klangkost aus dem Reformhaus.

Krautrock, dieser unendlich hässliche Begriff aus dem Wortschatz britischer Weltkriegsveteranen, erhielt in den 1990er-Jahren einen neuen Sinn. Kreidler und andere, verwandte Bandkollektive wie To Rococo Rot und Tarwater "beamten" die fließenden, wie Sirup süßen Klänge der alten, kosmische Kuriere hinüber in die Club-Landschaften von Techno und Electronica.

US-Postrockformationen wie Tortoise bezogen sich auf die famos improvisierenden Kölner Spinner von Can. Die jagten die Stimme eines japanischen Straßenmusikers über flauschweiche Klangteppiche. Und verloren sich in endlosen, köstlich mäandernden Improvisationen, die der Puls des anderen großen Schlagzeuggenies, Jaki Liebezeit, verlässlich am Leben erhielt.

Aus dem Schatten geholt

Ein späterer New-Wave-Zausel wie Julian Cope schrieb sogar ein dickes Buch über Krautrock. Das so lange verpönte westdeutsche Musikerbe wurde aus dem Schatten der Obskurität gezerrt. Und Kreidler, seit genau einem Vierteljahrhundert aktiv, speisten neue Qualitäten in das überwiegend synthetische Strömen ein. Bastelten Mini-Module. Okkupierten Klangkürzel aus Fernost oder ließen silberglänzende Döschen klingeln. Bis Donald Trump kam. Kreidler warfen ein komplett fertiggestelltes Album auf den Mist. Zu hell und freundlich erschien ihnen plötzlich das frisch abgemischte Ergebnis. Binnen weniger Tage wurde die Langspielplatte "European Song" aus dem Boden gestampft. Aus Tüftlern wurden Donnergötter. Die Platte trommelte lautstark den Protest ein gegen Rattenfänger, in Übersee und um die Ecke.

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"Flood", das neue Kreidler-Werk, nimmt sich gegen das Wutalbum wie ein ruhiger Kommentar aus. Sanft, wie aus dem Brunnenschacht einer levatinischen Enklave, steigt "Eurydike" empor. Überhaupt scheinen Gespenster über Europa zu flattern, dem Kontinent, an dessen Küsten viele, viele Menschen allmonatlich ihr Leben lassen. Und immer wieder lassen die verhallten Saxophon-Schlieren an altes Kraut denken, zum Beispiel an Wolfgang Riechmanns wundervollen Schwanengesang "Wunderbar" (1978).

Von Düsseldorf nach Bristol

Zwischen sanftem Gongen und ziehenden Synthesizer-Wolken kommen auch Poeten zu Wort. Das Gedicht "Sida Hoada" stammt von Khoes alias Nesindano Namises aus Namibia. Der Titel, der so heißt wie die Sängerin, hätte übrigens formidabel auf eine der guten, alten Massive-Attack-Platten gepasst. Düsseldorf kann bei Bedarf eben auch Bristol werden. Kraut soll ja in gewissen Kulturkreisen ein gutes Rauchmittel abgeben.

Im Verlauf der mehrteiligen Komposition "Flood" gleiten Kreidler langsam hinüber in verschwiegenere Zonen, hinab in den globalen Süden. Man meint, in Charons Nachen den Fluss des Vergessens zu befahren. Gestrandete Boote verrotten am Ufer. Der Brasilianer Ricardo Domeneck meditiert auf Portugiesisch über das jahrmillionenfache Alter eines jeden einzelnen Körnchens Sand.

Da ist sie wieder: die esoterisch anmutende Duftnote der deutschen Krautmusik. Man möchte in Flood förmlich versinken. (Ronald Pohl, 21.11.2019)