Till Lindemann im Liebestaumel: "Das Herz ist gebrochen, die Seele so wund/ Und du schaust mich an mit einem Knebel in dem Mund."

Foto: Universal

Am Anfang standen Hänsel und Gretel. Sie verirrten sich im deutschen Wald. Dort war es finster und auch so bitterkalt. Dann kamen sie aber an ein Häuschen, wo sie von einer Irren in Schlachterschürze mit Pfefferspray niedergestreckt und immer rein in die gute Stube gezerrt wurden. Hänsel fand sich daraufhin nackt an ein Andreaskreuz gefesselt wieder, als Mastvieh einer ziemlich ungut drauf wirkenden Fetischhexe. Gretel musste einstweilen den Haushalt führen, das Sexspielzeug abstauben und der strengen Herrin Till auch sonst dienlich sein. Ja, Ja! Nein, nein!

Die böse Frau mit den gruseligen Kajalaugen und dem doch eher Richtung Muckibude, Bierwanst und toxische Männlichkeit weisenden Türsteherleib wird am Ende allerdings nicht statt Hänsel im Ofen gebraten werden. Da hinein wird unser dank Burger, Pizza, Pommes, Ketchupduschen und Tortungen absurd blad wie der späte Elvis gewordene Held selbst steigen. Wie da das Fett zischt! Oh, Hänsel, welche Not!

Lindemann Official

So ähnlich könnte das alte Volksmärchen zumindest in der Fassung von Rammstein klingen. So ähnlich sorgte Rammstein-Fremdgänger Till Lindemann im Hamburger Thalia-Theater 2018 jedenfalls für einige Verstörung unter seinen Fans. In einer Bühnenfassung des durchaus auch als konsum- und kapitalismuskritische Kindesweglegung zu lesenden Märchenklassikers "Hänsel und Gretel" ging Lindemann als im Latexkleidchen wollüstig singende und swingende Gummiwurst um. Zu all ihrem Glück im Überdruss der Warenwelt brauchte sie nur noch gut durchzogenes Menschenfleisch, um den endgültigen Kick zu kriegen. Das Schwarterl lassen wir bitte dran:

"Ich esse, esse, esse, esse/ Stopf mir alles in die Fresse/ Tiere, Fleisch, die eigene Pein/ Doch es muss zart und knusprig sein/ Frische Tierchen, manchmal Kuchen/ Dürfen meinen Mund besuchen/ Alte Sachen ess ich nicht/ Jeden Tag jüngstes Gericht."

Lindemann Official

Mit dem Song "Allesfresser" hat sich Till Lindemann als Spielleiter von Rammstein als größter deutscher Band aller Zeiten jetzt solo nicht allzu weit von seinem angestammten Habitat im deutschen Wald wegbewegt. Dort wohnt neben dem Wolf, der Hexe und den 7 Zwergen bekanntlich auch das Böse.

Nach dem gemeinsam mit dem schwedischen Metalmusiker und Multiinstrumentalisten Peter Tägtgren 2015 veröffentlichten englischsprachigen Soloalbum "Skills in Pills" geht Till Lindemann als Lindemann auf dem jetzt vorliegenden Nachfolger "F & M" (für "Frau und Mann") wieder zurück zum rollenden R, gutturalem Donnergrollen und Grunzen in deutscher Muttersprache.

Zu zünftigen Metal-Riffs, oft gebrochen-fanfarenhaft klingendem Keyboardgekäse und von Null auf eins in die Top Ten der deutschen Hitparade einmarschierenden Stiefelstampf-Beats ist Lindemann ganz bei sich. Er ist Rammstein ohne Rammstein, also Rammstein ganz bei sich selbst.

Fleisch und Blut

Die Liebe, die Lust, der Verlust und der Schmerz, die Marter. Das Böse, der Hass, der Tod. Dazu der Johannistrieb eines Silberrückens, Neigungsgruppe Sado und Maso – und immärrr wiedärrr: Leben heißt Blut! Fleisch und Blut!

Songs wie der Tango (!!!) "Ach so Gern" oder "Knebel" überraschen zwar nicht textlich. Da hat sich der immer gern zwischen Dumpfheit und Schärfe rockende Volksdichter Lindemann mit ein paar einschlägigen Pornovideos und einem Reimlexikon einen leichten Tag gemacht: "Ich mag die Tränen auf deinem Gesicht/ Ich mag mich selber, mag mich selber nicht/ Das Herz ist gebrochen, die Seele so wund/ Und du schaust mich an mit einem Knebel in dem Mund."

Mit Lagerfeuergitarrenintro und einem lukullischen, gleich einmal selbst zensurierten Video im Zeichen von "Tabubruch" (ui, ui, ui!) kann Lindemann seine Stammkundschaft allerdings bei der Stange halten. Fleischgewehr bei Fuß! Lindemann verspeist im Video einen lebenden Aal und ein Insekt – und er führt eine nackte Frau in Ketten vor. Jemand hat einmal gesagt: "Alles was zu dumm ist, um gesprochen zu werden, wird gesungen." Das Gscheiterl nannte sich Voltaire. (Christian Schachinger, 21.11.2019)