Die Proteste in Chile und die darauffolgende Polizeigewalt wecken bei vielen Beobachtern Erinnerungen an die Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet (1974 bis 1981). DER STANDARD erreichte den Umweltaktivisten Juan Pablo Orrego, der damals als Musiker Karriere machte, nach 21 erfolglosen Versuchen am Telefon.

STANDARD: In einem abgehörten Telefonat hat Cecilia Morel, die Ehefrau des chilenischen Präsidenten Sebastian Piñera, Ende Oktober erklärt, man werde wohl "unsere Privilegien etwas zurücknehmen und mit den anderen teilen" müssen. Wurde diese Ankündigung umgesetzt?

Juan Pablo Orrego: Natürlich nicht. Die chilenische Oberschicht hat noch nie etwas hergegeben. Auch die groß angekündigten Ministerwechsel waren nur ein Schauspiel für die Medien, um neue Gesichter präsentieren zu können.

STANDARD: Sie haben 1971 auf der legendären Aufnahme von Víctor Jaras Antivietnamkriegssong "El derecho de vivir en paz" ("Das Recht, in Frieden zu leben") den Bass gespielt. Das Lied wird auch auf den aktuellen Demonstrationen gespielt.

"La Pichanga Música Chilena"

Wie sieht die Generation, die die Pinochet-Diktatur miterlebte, die aktuellen Proteste? Haben Sie vor, an einer der zahlreichen Bürgerversammlungen, den sogenannten Cabildos, teilzunehmen, auf denen über Reformforderungen diskutiert wird?

Orrego: Natürlich beteiligt sich neben der Jugend auch unsere Generation an dem Prozess, an dessen Ende eine neue Verfassung stehen soll, die den Bedürfnissen der Bevölkerung, aber auch der Natur entspricht.

STANDARD: Stimmt es, dass Chiles Verfassung keine Regelungen zum Schutz der Umwelt und der Trinkwasserbestände enthält?

Orrego: Das wollen Ausländer oft nicht glauben, aber in Chile ist das Wasser in Privatbesitz, wie in Artikel 24 der Verfassung aus dem Jahr 1980, also unter der Pinochet-Diktatur, festgehalten ist. Die Wasserreserven gehören nicht dem Staat oder der Bevölkerung, sondern zu hundert Prozent Firmen aus Frankreich, Spanien und Italien. Auch das Wasser- sowie das Elektrizitäts- und Bergbaugesetz wurden Anfang der 80er-Jahre verfasst und dienen dem Zweck, die Ausbeutung der Bodenschätze und Ressourcen durch private Unternehmen festzuschreiben. Ich sage seit Jahrzehnten, dass das chilenische Wirtschaftsmodell eine Zeitbombe ist. Staatliche Dienstleistungen sind äußerst mangelhaft, es gibt eine ganze Branche, die qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Bildungsangebote für viel Geld anbietet, was sich nur der reichste Bevölkerungsanteil leisten kann. Die 0,01 Prozent Reichsten erhalten 14 Prozent der Einnahmen Chiles, die reichsten 20 Prozent 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

STANDARD: Chile gilt als wirtschaftliches Vorbild ...

Orrego: Unsere Wirtschaft steht auf drei Beinen: zuerst die Bergbauindustrie, die bis auf den Staatskonzern Codelco in ausländischer Hand ist. Dann ist da der industrielle Fischfang, der hauptsächlich mit Schleppnetzen erfolgt, die den Meeresboden zerstören. Es gibt kaum Schonzeiten für gefährdete Arten, der Großteil des Fangs, seien es große oder kleine Fische, wird zu Fischmehl für den Export verarbeitet. Dazu kommen noch die Eukalyptusplantagen, die die Mapuche-Indigenen im Hauptanbaugebiet Araucanía "grüne Wüsten" nennen, weil nichts übrig bleibt, wenn die Bäume nach 15 Jahren gefällt und exportiert werden. In einer der regenreichsten Regionen Chiles muss die Bevölkerung heutzutage mit Tanklastern mit Wasser versorgt werden! Die Ausbeutung läuft also wie zu Kolonialzeiten weiter, die Wirtschaft basiert auf Rohstoffexporten, in Chile wird sonst nichts produziert: kein Computer, kein Fotoapparat, kein Auto.

STANDARD: Aus welchen Ländern kommen die Investoren hauptsächlich?

Orrego: Nachdem die reichste Familie des Landes, die kroatisch-chilenischen Luksics, denen halb Chile gehört, wegen fünffacher Kostenüberschreitungen aus dem umstrittenen Kraftwerksprojekt Alto Maipo in der Nähe der Hauptstadt Santiago ausgestiegen ist, bauen die US-Firma AES Gener und die österreichische Strabag weiter (Aufsichtsratsvorsitzender der Strabag ist Ex-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, der Anteil der Österreicher beträgt knapp sieben Prozent, Anm.).

Österreichische Fahne auf der Baustelle.

Vom Maipo-Fluss hängt die gesamte Hauptstadtregion ab, aus diesem kommen 80 Prozent des Trinkwassers für die acht Millionen Einwohner Santiagos. Das Großprojekt erfasst drei Zuflüsse des Maipo in insgesamt 70 Kilometer langen Tunnels, um aus dem Wasser Strom zu erzeugen. Das Projekt ist extrem unpopulär, wir gehen mit friedlichen Protestaktionen, aber auch mit Klagen gegen die Banken, die den Bau finanzieren, dagegen vor.

STANDARD: Mit Erfolg?

Orrego: Leider interveniert immer, wenn eine Regierung auf unsere Forderungen einzugehen bereit ist, die US-Botschaft. So konnte der Ausbau des Campiche-Kohlekraftwerks am Ventanas-Strand in Puchuncaví, einer der meistverschmutzten Regionen Chiles, durchgedrückt werden.

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Putzaktion: Marineangehörige und Freiwillige sammeln vor dem Kohlekraftwerk Müll auf. 2013 wurden hier Tonnen toter Sardinen angespült.
Foto: REUTERS/Rodrigo Garrido

Das ist nur eine der sogenannten "Opferzonen", in denen überdurchschnittliche Umweltverschmutzung durch Wärmekraftwerke, giftige Abwässer aus dem Bergbau oder Agrarchemikalien toleriert wird. Ein großes Problem ist, dass in Chile mittlerweile zu viel Strom produziert wird. Der Markt ist übersättigt, im vergangenen Sommer lag die Produktion einmal 70 Prozent über dem Verbrauch.

Energieversorger wie die italienische Enel haben öffentlich bekundet, dass sie auf Bevölkerungszuwachs oder die Erschließung neuer Minen hoffen, um den Strom loszuwerden. Nun wird auch erwogen, den Strom nach Argentinien und Peru zu exportieren. Gegen den Austausch von Ressourcen über Grenzen hinweg ist ja nichts einzuwenden, aber dass für den Stromexport Flüsse zerstört werden oder Kohle verbrannt wird, lehnen wir ab. Wenn, dann sollten wir im sonnenreichen Norden Chiles hergestellten Solarstrom verkaufen.

Das Solarkraftwerk Quilapilum, 40 Kilometer nördlich von Santiago.
Foto: APA/AFP/MARTIN BERNETTI

Der Preis, den Stromerzeuger von den Abnehmern verlangen können, ist binnen zehn Jahren von 120 Dollar auf unter 50 Dollar für die Megawattstunde gefallen, weshalb es mir unverständlich ist, dass weiter in teure und unpopuläre Großprojekte wie Maipo investiert wird. Meiner Ansicht nach bauen die Firmen lieber weiter, als die getätigten Investitionen als Verlust abzuschreiben. Mit der Energieversorgung Chiles und den Interessen der lokalen Bevölkerung hat das allerdings nichts mehr zu tun.

Der Ligua-Fluss in Petorca, Provinz Valparaíso, ist ausgetrocknet. Im September erklärte Präsident Piñera die Region zum Katastrophengebiet.
Foto: APA/AFP/CLAUDIO REYES

Auch die Wassermenge, die der Maipo führt, ist laut Berichten chilenischer Medien heutzutage 50 Prozent geringer als noch vor wenigen Jahren, das Projekt ist also wirtschaftlich sinnlos. Ich habe kürzlich ein Video gesehen, in dem ein Kajakfahrer den Maipo, der an dieser Stelle vor 30 Jahren ein reißender Strom war, durchwatete. Das Wasser stand ihm nur bis zum Gürtel!

STANDARD: Die Strabag betont, dass sie sich an die "hohen Standards der chilenischen Umweltbehörden" hält ...

Orrego: Gegen dieses Problem kämpfe ich seit 30 Jahren: in Chile werden Gutachten von den Auftraggebern umgeschrieben. Da keine Universität auf dieses lukrative Geschäft verzichten will, sagt kein Wissenschafter etwas dagegen. Schließlich sind sie wegen des chilenischen Bildungssystems auf diese Einnahmen angewiesen.

Eine Untersuchungskommission des Parlaments hat bereits vor zehn Jahren festgestellt, dass die Baugenehmigung nie erteilt werden hätte dürfen. Leider haben solche Erkenntnisse keine Konsequenzen. Von ausländischen Unternehmen erhält man immer die Antwort "Wir halten uns an die chilenischen Gesetze".

Genau deswegen explodiert Chile gerade: sowohl die Verfassung als auch das Wasser- das Bergbau- und das Elektrizitätsgesetz stammen aus Zeiten der Diktatur und erfüllen nicht den Zweck, die Bevölkerung zu schützen. (Bert Eder, 28.11.2019)