Richter sollten sich stärker damit auseinandersetzen, warum ein Täter eine Tat begeht, fordert Oliver Scheiber. Er selbst sei nicht immer mit allen Regeln einverstanden, die er anwendet: "Ich muss mich als Mensch nicht immer mit allen Regeln identifizieren, kein Bürger tut das."

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In seinem Buch "Mut zum Recht! Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat" gibt der Wiener Jurist Oliver Scheiber Einblick in seinen Alltag als Richter und zeichnet das Bild eines Gerichts der Zukunft, das weniger abgehoben von Menschen agiert. Im STANDARD-Interview erklärt er, was ihn bewegt.

STANDARD: Sie kritisieren, dass Richter oft zu wenig empathisch seien. Was meinen Sie damit?

Scheiber: Wir widmen uns zum Beispiel in der Strafverhandlung zu stark der Frage Schuld oder Unschuld, also nur der Tat, zu wenig der Biografie des Täters. Man sollte vor allem bei jungen Tätern das Umfeld stärker einbeziehen, also etwa Lehrer oder Lehrherren – um sich ein besseres Bild zu machen, wo die Ursachen für die Kriminalität im Einzelfall liegen. Man könnte so die Rückfallsquoten deutlich senken.

STANDARD: Wie kann man als Richter Mitleid empfinden und zugleich der Strenge des Gesetzes verpflichtet sein?

Scheiber: Ich habe da gar keine Ängste. Medizinern traut man es ja auch zu, dass sie mit schweren Krankheiten konfrontiert sind und nüchtern handeln, ohne empathielos zu sein. Und das Strafgesetz an sich ist ja tendenziell empathievoll. Es gibt viel mehr Milderungsgründe als Erschwerungsgründe.

STANDARD: Das Gesetz ist empathisch, aber die, die es anwenden, sind es nicht?

Scheiber: Viele sind empathisch, aber es ist zu wenig im System verankert. Ein Beispiel: Wenn jemand eine lange Freiheitsstrafe absitzt, wird über den Antrag auf vorzeitige Entlassung eine Verhandlung durchgeführt. Diese Verhandlungen dauern aber oft nur wenige Minuten. Für den Einzelnen geht es da um sehr viel, die Betroffenen besprechen das monatelang mit der Familie, was danach ist, wenn sie hinauskommen, wie es dann weitergeht. Und dann wird das mit einem kurzen Formalakt abgehandelt – das ist einfach strukturell Brutalität.

STANDARD: Mangelt es an Empathie oder an Zeit?

Scheiber: Das System hätte insgesamt schon genügend Ressourcen, man müsste sie vielleicht verschieben. Es würden ja auch Ressourcen freiwerden, wenn es mehr bedingte Entlassungen gibt.

STANDARD: Hätte der Mensch Oliver Scheiber schon manchmal anders entschieden als der Richter?

Scheiber: Ja, schon. Vor allem, wenn es um Drogenkonsum geht. Aber ich würde das nicht problematisieren. Ich muss mich nicht immer mit allen Regeln identifizieren, kein Bürger tut das. Der Beamte, der das Rauchverbot vollzieht, muss nicht persönlich das Rauchverbot befürworten, er muss es nur umsetzen.

STANDARD: Kann man das vergleichen? Der Beamte verhängt Geldstrafen. Sie geben vor, ob das Scheidungskind zur Mutter oder zum Vater kommt oder ob ein Mensch hinter Gitter muss. Das hat doch eine andere Tragweite.

Scheiber: Ja, aber damit muss man leben, und das geht. Zum Beispiel gibt es in der Justiz seit jeher viele, die die Strafbarkeit von Cannabisbesitz nicht für zeitgemäß halten. Trotzdem vollziehen wir das Gesetz, und das Gesetz hat auch positive Seiten. Unter anderem den, dass Konsumenten Hilfe bekommen. Zwar gibt es viele, die regelmäßig Cannabis nehmen und weiter am sozialen Leben teilnehmen. Aber es gibt auch auffällig viele, die aus dem Arbeitsprozess rausrutschen oder vereinsamen. Da bewirkt die Anzeige dann, dass Sozialarbeit und Gesundheitsbehörde diese Leute erwischen und die Betroffenen erstmals Hilfsangebote bekommen.

STANDARD: Also wäre eine völlige Straffreiheit sogar schädlich?

Scheiber: Wenn man die Strafrechtliche Kontrolle weglässt, sollte man sozialarbeiterische Kontrolle ausbauen – was ja möglich wäre. Das ist generell eine Rolle der Justiz, dass sie viele Fremdaufgaben übernimmt, auch in der Psychiatrie: In Wien funktioniert es halbwegs, aber am Land gibt es so gut wie keine Jugendpsychiatrie. Dadurch sind viele Leute so lange unbehandelt, bis sie auf irgendeine Weise straffällig werden – und dann reagiert die Justiz. Das ist extrem unbefriedigend.

STANDARD: Justizminister Jabloner sieht die Justiz durch massiven Geldmangel bedroht. Ist es nur Geldmangel oder auch Ineffizienz?

Scheiber: Beides. Im Moment scheitert wirklich vieles an Geld: Kanzleikräfte fehlen, dadurch dauern Verfahren länger, Richter und Staatsanwälte werden demotiviert. Aber man muss auch weiterdenken. Rund ein Drittel der Gefängnisinsassen könnte man sofort bedingt entlassen, ohne dass es irgendeine Auswirkung auf die Sicherheit hat. Weil die Gefängnisse einfach mit zu vielen Kleinkriminellen vollgestopft sind. Man sollte auch Delikte unter zehn Euro Schaden überhaupt nicht mehr verfolgen. Und dann könnte man die jahrhundertealte Kanzleiordnung reformieren: Maria Theresia hat das Internet damals nicht mitbedacht.

STANDARD: Wie misst man eigentlich, wie gut die Justiz funktioniert? Die Verfahrensdauer allein kann es ja nicht sein.

Scheiber: Man sollte Gerichte durch Anwälte und Verfahrensparteien strukturiert evaluieren: Wie höflich, pünktlich, verständlich sind Richter? Und beim Opferschutz sollte man die Standards erhöhen, etwa sicherstellen, dass die Warteräume von Sexualdelikts-Opfern und Tätern an den Gerichten tatsächlich getrennt sind. Beim Umgang mit Kindern können wir viel tun. In Schweden werden Kinder, denen etwas passiert ist, in speziell eingerichteten Räumen befragt. Und man achtet darauf, dass die diversen Befragungen immer in demselben Raum stattfinden, damit das Kind nicht herumgeschoben wird und immer wieder Angst bekommt. Befragungen vom Jugendamt werden aufgezeichnet und dann dem Gericht zur Verfügung gestellt, damit das Kind nicht unnötig oft befragt werden muss. Solche Dinge.

STANDARD: Warum haben es ärmere Menschen immer noch viel schwerer, sich Recht zu verschaffen als reichere?

Scheiber: Im Zivilbereich gibt es bis circa 1.000 Euro Einkommen Verfahrenshilfe – aber für die, die zwischen 1.000 und 2.000 Euro verdienen, sind Prozesskosten fast unerschwinglich. Mit 1.500 Euro netto kann ich keinen Zivilprozess führen, der mich 30.000 Euro kostet und wo die Erfolgschance bei 70 Prozent oder weniger liegt. Das beginnt schon beim Sichern von Beweisen: Wenn ich im Wohnzimmer sitze und da springen die Wände, weil daneben die U-Bahn gebaut wird, dann kostet das Beweissichern allein schon um die 4.000 Euro, die ich vorschießen muss. Das ist ein großes Problem. Da kommen viele erst gar nicht zum Gericht, weil es zu teuer ist. Und potente Prozessgegner nutzen das aus, indem sie das Verfahren durch aufwändige Gutachten teuer machen, um den anderen einzuschüchtern.

STANDARD: Wie lässt sich das lösen?

Scheiber: Man könnte damit beginnen, die Gerichtsgebühren zu senken. Umsonst wird es jedenfalls nicht sein, wenn man die Bevölkerung von den hohen Kosten befreien wird. Wobei ja ein Teil zurückfließt – die gewonnenen Prozesse werden ja vom Gegner ersetzt, das wird in der Hälfte der Fälle so sein. Geld ist aber immer nur eine von vielen Hemmschwellen beim Zugang zum Recht. Es geht immer auch um Bildung, um Selbstwert, um Unverständlichkeit. Nur kann man das Finanzielle relativ schnell ausgleichen, die Bildung nicht. Wir sollten Informationen in mehreren Sprachen anbieten und auch mehr mündlich statt schriftlich informieren. Am besten erhöht man Gleichheit aber durch eine generelle Anwaltspflicht, und indem man im Strafrecht die Verfahrenshilfe ausbaut.

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STANDARD: Manche meinen, die Staatsanwaltschaften seien jetzt, in der Phase der Übergangsregierung, viel aktiver in der Verfolgung von Korruption. Sie auch?

Scheiber: Ja. Und ich glaube, das ist kein Zufall. Wenn gegen Personen ermittelt wird, die derselben Partei angehören wie der Minister, dann schildern mir das ehemals führende Ermittler schon so, dass das nicht gerade motivierend wirkt. Der jetzige Minister ist parteifrei und wir beobachten erstaunlich zügige Verfahren.

STANDARD: Die Frage ist aber: Wie unabhängig kann eine Staatsanwaltschaft je sein, ohne völlig unkontrolliert zu agieren?

Scheiber: Mein Idealfall wäre das italienische System, wo Staatsanwaltschaften völlig unabhängig sind. Ja, es heißt zwar immer, dann fehlt die Kontrolle, aber den Punkt verstehe ich nicht. Alle wichtigen Anträge werden ja unabhängigen Gerichten vorgelegt.

STANDARD: Wäre ein parteiloser Justizminister ein Kompromiss?

Scheiber: Glaube ich nicht. Er wäre trotzdem stark abhängig von den Regierungsparteien. Man darf auch nicht übersehen, dass ein Parteiloser bisher immer wenig Hausmacht für die wichtigen Budgetverhandlungen hatte.

STANDARD: Der Glücksspielsektor ist wegen seiner Korruptionsanfälligkeit wieder in der Kritik. Als Strafrichter sind sie mit den Opfern des Glücksspiels konfrontiert. Wie erleben sie das?

Scheiber: Früher hat Spielsucht eine viel geringere Rolle gespielt. Heute gibt es viel mehr Diebe, die vor Gericht sagen: Ich hab das Geld gebraucht fürs Spielen. Oder Leute, die Automaten kaputtschlagen, aus Verzweiflung, wenn sie viel Geld verlieren – das kam bei uns am Bezirksgericht früher alle drei Jahre einmal vor, jetzt fünf Mal im Jahr.

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STANDARD: Wir sehen an Ländern, die in Autoritarismus abgleiten, dass die Justiz unter den ersten Opfern ist. Befürchten Sie Ähnliches für Österreich und gab es schon Anzeichen?

Scheiber: Am ehesten in der ressourcenmäßigen Geringschätzung der Justiz im Vergleich zur Polizei. Bei der Polizei wurde massiv aufgestockt, in der Justiz nicht. Das schwächt den Rechtsstaat massiv. Auch, weil die Polizei ja unter Weisung des Innenministers steht, während die Gerichte unabhängig sind. In letzter Konsequenz führt die Ressourcenverschiebung zum Polizeistaat. Als erste spüren solche autoritären Tendenzen immer die Randgruppen, etwa Asylwerber und Fremde. Es ist der Trugschluss der breiten Mittelschicht, dass sie vielleicht nicht betroffen ist: Sie bekommt es immer auch sehr bald zu spüren.

STANDARD: Gibt Türkis-Grün diesbezüglich Hoffnung?

Scheiber: Wir haben eine autoritäre Spirale gesehen. Nicht wir haben es geschafft, uns daraus zu befreien, letztlich waren es Zufälle und ausländische Aufdeckermedien. Ich hoffe dass der Schrecken jetzt so groß ist, dass alle aufmerksamer sind. Natürlich sieht man da die Grünen immer in der Pflicht, aber warum sollen es eigentlich die Grünen allein sein? Alle Parteien sollten das ernst nehmen. Was ich aber schon als Problem sehe, ist, dass alle ängstlicher geworden sind.

STANDARD: Inwiefern?

Scheiber: Am stärksten ist es mir beim Schild "Ausreisezentrum" aufgefallen, das Ex-Innenminister Herbert Kickl im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen aufhängen ließ. Da wurde ein Zynismus eingeführt, der den Staat binnen kürzester Zeit kaputt macht. Dass es da öffentlich überhaupt keine mahnenden Stimmen aus der Beamtenschaft gegeben hat, fand ich sehr deprimierend. Es gibt ja genügend Beamte, die nichts zu verlieren hätten – Leute, die ein Monat vor der Pension stehen zum Beispiel. Aus dieser Mutlosigkeit müssen wir möglichst schnell wieder heraus. (Maria Sterkl, 28.11.2019)