Fernsehbilder von demonstrierenden Menschen, vor allem jungen Menschen, gehören heute wieder zum täglichen Nachrichtenmenü. Von Hongkong bis Chile, von Paris bis Prag. Die Jahre 1968 und 1989 haben sich in unserer Erinnerung als Jahre des Jugendprotests eingegraben. Die nächste Generation schien ruhiger und offenbar zufriedener. Jetzt wird wieder demonstriert. Was ist anders geworden?

Mit Vergleichen soll man vorsichtig sein. Aber während es bei den Protestwellen vergangener Jahre vor allem um Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat gegangen ist, steht heute vorwiegend der Kampf gegen Korruption und für ein besseres Leben für diejenigen im Vordergrund, die sich von den herrschenden Eliten vergessen und abgehängt fühlen. Und noch etwas fällt auf: Bei den meisten Massendemonstrationen fehlen bekannte Anführer und erkennbare Strukturen, die in neue Parteien münden könnten. Viele Demonstranten legen Wert darauf, dass ihr Protest „von unten“ kommt und keiner Parteilinie folgt.

In Prag demonstrierten 250.000 Menschen gegen Premier Andrej Babiš.
Foto: imago /Roman Vondrous

In Osteuropa feiert man in diesen Tagen überall die Wende, vom Mauerfall in Deutschland bis zur Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei, und auch die Etablierung von nichtkommunistischen Regierungen in Polen, Ungarn und auf dem Balkan. Aber in die Genugtuung mischt sich auch Enttäuschung. Die großen Hoffnungen von damals haben sich nicht oder nur in bescheidenem Maße erfüllt. „Wir wollen nach Europa“, skandierten in jenen Tagen die Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz. Gemeint war: in die Region, in der Demokratie und Wohlstand herrschen. Heute meinen viele: „Europa“ war und ist gut für die Eliten, nicht gut für die sozial Schwachen. Ähnlich denken auch nicht wenige, die in Westeuropa und bei uns rechtspopulistische Parteien wählen.

Gegenbewegung

Der bulgarischstämmige Politologe Ivan Krăstev hat in seinem neuen Buch "Das Licht, das erlosch" die These aufgestellt, dass die Osteuropäer seinerzeit den Westen – das heißt: die liberale Demokratie – imitieren wollten, heute aber eher das Gegenteil wünschen.

Viktor Orbán aus Ungarn predigt die „illiberale Demokratie“. Jarosław Kaczyński in Polen nennt Westeuropa dekadent, islamisiert, ein Völkergemisch. Alle und mit ihnen die west- und zentraleuropäischen Rechtspopulisten wie die FPÖ wollen zwar nicht die Europäische Union zerstören, aber sie von innen her verändern. Donald Trump und Wladimir Putin gefallen ihnen besser als Jean-Claude Juncker und Angela Merkel.

Freilich, es gibt auch eine Gegenbewegung. In Ungarn und Polen haben in großen Städten liberale und demokratische Bürgermeister Lokalwahlen gewonnen. Gegen Einschränkungen der Pressefreiheit und der Justiz gibt es auch Widerstand. In der Slowakei haben nach dem Mord an einem Aufdeckerjournalisten Massenproteste unter der Losung „Für eine anständige Slowakei“ die Wahl einer integren Menschenrechtsanwältin zur Staatspräsidentin erzwungen. In allen Fällen haben junge Wähler und Teilnehmer eine entscheidende Rolle gespielt. Wohin immer die derzeitige Demonstrationskonjunktur füh-ren wird – die Zeit der Passivität der jungen Generation ist jedenfalls vorbei. So bald werden die Jungen nicht von den Straßen verschwunden sein. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 21.11.2019)