Münchner Traumpaar: Jonas Kaufmann und Marlis Petersen.

Foto: Wilfried Hösl

Was der Wiener Staatsoper mit der Salzburger Willy-Decker-Inszenierung von Korngolds Toter Stadt recht war, ist den Münchnern jetzt billig: Nikolaus Bachler hat die Basler Inszenierung, mit der Simon Stone vor drei Jahren erstmals als Opernregisseur reüssierte, für München reaktiviert.

Das Ganze lag jedoch in den Händen der Stones-Assistentin Maria-Magdalena Kwaschik; der Regisseur ist ja heuer vor allem mit einem Filmprojekt beschäftigt. Am Residenztheater musste denn auch eine Inszenierung abgesagt werden und eine an der Burg verschoben. Den euphorischen Schlussapplaus abzuholen, dafür hatte Stone allerdings doch Zeit.

Seine Inszenierung wirkt tatsächlich immer noch frisch und besitzt nun auch einen Glamourfaktor – etwa mit dem immer noch hauseigenen Weltstar Kirill Petrenko am Pult, dem neuen Chef der Berliner Philharmoniker. Er erfüllt alle Erwartungen bezüglich Perfektionismus und kalkulierten Klangrausches.

Auch das Bühnenbild der "toten Stadt" wirkt imposant.
Foto: Wilfried Hösl

Eine Traumbesetzung

Das Schwelgen in der opulenten Spätromantik des 1920 uraufgeführten Wurfes des damals 23-jährigen Komponisten Marke Wunderkind bereitet Petrenko offensichtliches Vergnügen. Dazu eine Traumbesetzung, was im doppelten Wortsinn zu verstehen ist, denn der Hauptteil des Geschehens ist ein heilsamer Traum: Marlis Petersen wechselt mühelos zwischen der quicklebendigen Tänzerin Marietta und der erinnerungsblassen Marie.

Sie spielt körperlich exzessiv und imponiert mit Wandlungsfähigkeit genau so wie mit perfekt sitzenden Höhen. Auch Jonas Kaufmann ist in der (bei ihm hörbar) mörderischen Tenorpartie des trauernden Paul nahezu durchgängig in Hochform!

Andrzej Filonczyk (in der Doppelrolle von Frank und Fritz) glänzt nicht nur mit Mein Sehnen, mein Wähnen. Jennifer Johnston ist eine wunderbar mezzosatte Brigitta. Auch die Truppe Mariettas ist handverlesen besetzt, die Chöre durchweg ein Genuss. Musikalisch ist das also ein Abend betörender Luxusklasse.

Lucienne (Corinna Scheurle, li.), Marietta (Marlis Petersen), Juliette (Mirjam Mesak) und Gaston (Manuel Günther) sind noch ausgelassen.


Foto: Wilfried Hösl

Trauer um Tote

Szenisch dominiert bewusste Distanz zur symbolistischen Düsternis der Romanvorlage Bruges la Morte von Georges Rodenbach und zu der allgegenwärtigen Trauer um die Kriegstoten, welche zur Entstehungszeit allgegenwärtig war. Der Fokus liegt auf dem individuellen Leid und macht die Gefahren von unbewältigter Trauer deutlich. Pauls Ehefrau Marie ist offensichtlich an Krebs gestorben. Paul durchlebt die Katastrophe immer wieder und kommt mit ihr nicht klar.

Das Psychogramm des vereinsamten Mannes in einer existenziellen Sackgasse entfaltet sich in einer nüchternen Erdgeschoßwohnung. Hier hat er seine Kirche der Erinnerung eingerichtet – bestückt mit unzähligen Fotos und Maries blonder Perücke als Heiligtum. Die quicklebendige Tänzerin Marietta erlangt hier Zugang, weil sie äußerlich der Toten gleicht.

MIt Totentanz ins Leben zurück

Das wird allerdings zum Problem. Paul versucht, Marietta seinem Traumbild von der toten Gattin anzupassen, was in einem mörderischen Exzess gipfelt. Dieser erweist sich jedoch als heilsam schockierender Albtraum. Wenn Paul schließlich die Reliquien seiner Erinnerung selbst im Papierkorb verbrennt, dann fragt er „Wie weit soll unsere Trauer gehen …“ So weit immerhin löst er sich aus seiner tiefen Melancholie. So weit liefert schließlich der Protagonist selbst die Interpretation zu seiner Geschichte.

Dann beschenkt er noch einmal mit seinem unwiderstehlichen „Glück, das mir verblieb“, die – im günstigsten Fall wohl – ergriffenen Zuschauer. Und man möchte jene Bierflasche, mit der Paul schließlich seine Wohnung verlässt, als Zeichen für seine Rückkehr ins Leben verstehen. (Joachim Lange aus München, 20.11.2019)