Kinder des Mentawai-Volkes auf der indonesischen Insel Siberut beim Musizieren. Eine groß angelegte Studie zeigt: Nicht nur wird überall gesungen, auch in Funktion und Form tanzt diesbezüglich kaum jemand weit aus der Reihe.

Foto: Manvir Singh; Mentawai people

Wien – Musik wird gemeinhin gerne als eine "universelle Sprache" bezeichnet – doch ist dem wirklich so? Zwei wissenschaftliche Studien mit österreichischer Beteiligung können diese Frage nun mit einem klaren Ja beantworten. Die Forscher entdeckten weltweit in der Musik unterschiedlicher Kulturen große Gemeinsamkeiten.

In seiner groß angelegten Untersuchung im Fachjournal "Science" hat das internationale Team um Samuel Mehr von der Harvard University (USA) auf Daten zurückgegriffen, die Ethnomusikologen und Anthropologen über mehr als einhundert Jahre hinweg gesammelt haben. Dieser umfassende Schatz aus Informationen und Aufnahmen von Liedern aus insgesamt 315 Kulturen – von der Arktis über die Tropen bis zu Bewohnern entlegener Inseln – wurden von den Wissenschaftern zum Teil auch in zwei neue Datenbanken ("Natural History of Song"-Datenbanken, kurz NHS) überführt. Die grundsätzliche Frage war: Inwiefern lassen sich Unterschiede und Parallelen zwischen den gesungenen Liedern ausmachen.

Vom Jodeln über Choräle bis Heavy Metal

Die ungeheure Spannweite an Vokalmusik, die sich zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichsten Kontexten entwickelt hat, reicht bekanntlich vom getragenen gregorianischen Choral über ein leise gesungenes Schlaflied bis zum Heavy Metal-unterlegten Grunz-Schrei-Crossover. Andererseits existierten etwa Formen des Jodelns sowohl in hiesigen alpinen Regionen wie auch im Bergland Neuguineas.

Die viel zitierte Idee von Musik als einer Art kulturübergreifender "universeller Sprache" hält sich immerhin bereits seit dem Jahr 1835, wie Tecumseh Fitch und Tudor Popescu vom Department für Kognitionsbiologie der Universität Wien in einem die Arbeit von Mehr und Kollegen begleitenden Perspektivenartikel in "Science" schreiben. Einen tragfähigen Beleg dafür gebe es aber nicht und zahlreiche Experten zeigen sich demgegenüber auch skeptisch.

Modernste Datenauswertung

Die NHS-Datenbanken umfassen Lieder, die entweder als Untermalung von Tanz eingesetzt, die Heilung bringen oder Kindern beim Einschlafen helfen sollen oder das weltweit beliebte Genre der Liebeslieder bedienen. Bei der Einschätzung und Auswertung der Charakteristik der Aufnahmen kamen auch neue datenwissenschaftliche Methoden zum Einsatz.

Eine der augenfälligsten Erkenntnisse aus der Studie ist, dass es gesungene Musik in jeder der untersuchten Gesellschaften gibt. Überall wurden darüber hinaus auch Worte eingebaut, es wurde in irgendeiner Form dazu getanzt und alle Melodien und Rhythmen waren zudem in gewisser, nachvollziehbar Weise strukturiert, schreiben die Wissenschafter. Auch Tonalität, im Sinne des Aufbaus von Melodien anhand einiger Töne, die sich in bestimmten Abständen zu einem Referenz- oder Grundton befinden, war überall anzutreffen. Im Schnitt fanden sich größere Unterschiede zwischen den Musikstücken innerhalb einer Gemeinschaft als zwischen dem Liedgut mitunter entfernterer Kulturen.

Ähnliche Musik für ähnliche Gelegenheiten

Die soziale Funktion eines Stücks ließ sich relativ zuverlässig durch seine Ausgestaltung vorhersagen – und zwar über die verschiedensten Gruppen hinweg. "Menschen verwenden also ähnliche Musik in ähnlichen Kontexten in aller Welt", schreiben Fitch und Popescu. Während die Erkenntnis, dass Tanzlieder meistens schneller und rhythmischer als Schlaflieder sind, auf der Hand liegt, zeigte sich etwa auch der eher überraschende Befund, dass sich Heilungslieder gegenüber Tanzmusik kulturübergreifend melodisch weniger variabel präsentierten.

Die Ergebnisse sind laut den Studienautoren und Kommentatoren ein starker Beleg dafür, dass der menschlichen Musikalität auch ein universeller kognitiver Mechanismus unterliegt, mit dem sich sowohl die großen Unterschiede als auch die frappanten Ähnlichkeiten erklären lassen. "Musik ist tatsächlich universal", resümieren Mehr und sein Team. Die aktuelle Studie sei jedenfalls "ein großer Schritt vorwärts" in der Klärung der Frage, ob Musik tatsächlich gewissermaßen als "universelle Sprache" bezeichnet werden kann, attestieren Fitch und Popescu. (red, APA, 22.11.2019)