In einem Land, in dessen Geschichte sich die Ereignisse meist überschlagen haben, scheint die Zeit stillzustehen. Seit mehr als einem halben Jahr ist Benjamin Netanjahu Übergangspremier ohne Mehrheit. Nachdem auch Oppositionschef Benny Gantz an der Regierungsbildung gescheitert ist und eine dritte Parlamentswahl innerhalb eines Jahres bevorsteht, dürfte dies noch lange so bleiben.

Der Friedensprozess mit den Palästinensern ist eingefroren, auch weil die US-Regierung unter Donald Trump alle Wünsche der israelischen Rechten unkritisch erfüllt – von der Übersiedlung der US-Botschaft nach Jerusalem bis hin zur völkerrechtlichen Tolerierung des Siedlungsbaus. Die Sicherheitslage bleibt prekär, woran auch die jüngsten Raketenangriffe aus Gaza erinnert haben. Aber im israelischen Alltag wirkt sich das kaum aus. Die wachsende Ungleichheit und die hohen Lebenshaltungskosten erzürnen viele Bürger, aber in den Wahlkämpfen spielt dies eine Nebenrolle. Viele Israelis sind verbittert, aber dennoch ganz zufrieden. Stillstand erscheint ihnen besser als jede vorstellbare Änderung.

Dass auch nach zwei Wahlen keine Koalition eine Mehrheit findet, hat einen persönlichen und einen strukturellen Grund. Es liegt vorerst an Netanjahu, der sich an sein Premiersamt klammert, weil er sich dort am besten vor einer Anklage wegen Korruption und Untreue geschützt sieht. Mit ihm will und kann Gantz nicht regieren, doch noch ist Netanjahus Likud nicht bereit, ihn fallenzulassen.

Aber auch ohne den Rekordpremier hätte die Politik ein Problem: Eine linke Mehrheit ist nur mit der Arabischen Liste möglich, die auch von jüdischen Vertretern der Mitte als fester Partner abgelehnt wird; eine rechte benötigt die ultra-religiösen Fraktionen, die für viele Israelis als größtes Übel gesehen werden. Es ist Avigdor Libermans säkular-nationalistische Partei „Unser Heim Israel“, die der Mehrheitsfindung in der Knesset am stärksten im Wege steht.

Wie immer das Justizdrama um Netanjahu, das Israel seit fast drei Jahren im Banne hält, ausgeht: Für die politische Stagnation ist kein Ende in Sicht. Dies steht im krassen Widerspruch zur wirtschaftlichen Dynamik im Technologie- und Start-up-Paradies.

Aber es ist zweifelhaft, dass der bequeme Status quo dem Land eine sichere Zukunft garantiert. In den USA zeichnet sich eine Zeitenwende ab: Führende Demokraten gehen immer stärker auf Distanz zu Israels Politik, auch weil ein Großteil der amerikanischen Juden dem Staat gleichgültig oder offen kritisch gegenübersteht.

Bei den Palästinensern nimmt hinter der Fassade der Ruhe der Zorn über ihre aussichtslose Lage zu. Und während sich Israel mit den wichtigsten arabischen Regimes arrangiert und insgeheim sogar angefreundet hat, kann sich das Land auf das politische Überleben dieser Verbündeten nicht verlassen. Dafür brodelt es in den arabischen Gesellschaften zu stark.

Israel ist militärisch, politisch und wirtschaftlich heute stärker denn je. Das gibt dem Land die Chance, seine Zukunft in einer schwierigen Region aktiv zu gestalten – vor allem im Zusammenleben mit den Palästinensern. Stattdessen verheddert sich die Politik in sinnlosen Machtkämpfen und sieht zu, wie eine wachsende Polarisierung die einstige Solidarität immer mehr untergräbt. Netanjahu, der Großmeister des Opportunismus, ist das stärkste Symbol für diese Misere.

(Eric Frey, 22.11.2019)