Philip Kitcher vor der Glasfassade der Central European University in Wien: "Wir werden das Problem des Klimawandels nicht lösen, wenn es keinen Wandel in der Politik gibt."
Foto: Heribert Corn

Wissenschaftsphilosophen gelten gemeinhin als Gelehrte, deren Denken dem "wirklichen Leben" eher entrückt ist. Philip Kitcher, einer der einflussreichsten Fachvertreter der Gegenwart, ist das beste Gegenbeispiel. Der Professor der Columbia University in New York hat sich in seinen fast 20 Büchern nicht nur damit beschäftigt, was gute Wissenschaft ausmacht oder welche Rolle ihr in der Demokratie zukommt. Der gebürtige Brite befasste sich – neben Werken über Richard Wagners "Ring" oder "Finnegans Wake" von James Joyce – auch höchst praktisch beziehungsweise pragmatisch mit Gentechnik oder Kreationismus. Kürzlich war der 72-jährige Denker auf Einladung der Central European University (CEU) in Wien zu Gast, um unter anderem über sein jüngstes Buch "The Seasons Alter" (gemeinsam mit Evelyn Fox Keller) zu sprechen, in dem es in sechs sokratischen Dialogen um Fragen der Klimagerechtigkeit geht.

STANDARD: Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg meinte unlängst, viele US-Amerikaner würden noch am Klimawandel zweifeln, während er für die Europäer längst eine Tatsache sei. Wie sehen Sie das als gebürtiger Brite mit US-amerikanischem Pass?

Kitcher: Ich würde sagen, dass man in englischsprachigen Ländern insgesamt einigermaßen hintennach ist, wenn es um Fragen des Klimawandels geht. Das ist in Australien oder in Kanada nicht so viel besser. Zuletzt ist die Zahl der US-Amerikaner, die an einen vom Menschen verursachten Klimawandel glauben, von einem Tiefstwert nach 2008 immerhin wieder auf rund 70 Prozent angestiegen.

STANDARD: Gibt es eine Erklärung für den Anstieg?

Kitcher: Zum einen haben in den letzten Monaten sicher auch die Klimamärsche das Bewusstsein in den USA und Großbritannien geschärft. Zum anderen akzeptieten die Menschen den Klimawandel auch deshalb eher, weil wir zuletzt einige besonders heiße Sommer hatten und es zu einer Zunahme von Extremwetterereignissen kam. Die haben freilich, wie vorsichtige Klimaforscher einwenden würden, nicht unbedingt immer mit dem Klimawandel zu tun.

STANDARD: Warum ist die Akzeptanz des Klimawandels bei den US-Amerikanern nach 2008 abgesunken?

Kitcher: Damals wurden sich die Leute der Verletzlichkeit ihres eigenen Lebens durch wirtschaftliche Krisen bewusst. In Europa waren solche Effekte weniger stark, weil der Staat hier immer noch eine wichtige beschützende Rolle spielt. Warum viele Menschen den Klimawandel und Maßnahmen zum Klimaschutz nicht akzeptieren wollen, liegt also auch in der berechtigten Befürchtung begründet, dass sich ihr Leben dadurch verschlechtern könnte.

STANDARD: Letztlich war das auch der Grund für das Entstehen der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, wo ärmere Gruppen ursprünglich gegen die Erhöhung der Benzinpreise protestierten.

Kitcher: Richtig. Genau darin liegt auch die riesige Herausforderung: Auf der einen Seite gibt es eine Welt wachsender sozialer Ungleichheit, und viele Menschen führen heute ein prekäres Leben – nicht zuletzt in jenen Ländern, die vom Klimawandel besonders stark betroffen sind. Andererseits muss es besser früher als später zu einer radikalen Umstellung von fossilen auf erneuerbare Energieträger kommen, um die Auswirkungen des Klimawandels auf den Planeten für künftige Generationen möglichst gering zu halten, damit ein Überleben möglich ist.

STANDARD: Ist eine für alle gerechte Balance zwischen diesen beiden Alternativen überhaupt denkbar?

Kitcher: Das ist die große Frage. Wenn diese Umstellung gelingen soll, dann muss meines Erachtens auch etwas gegen die globale soziale Ungleichheit getan werden. Denn es kann nicht sein, dass die reichen Länder heute den armen Ländern vorschreiben, sich aus Gründen des Klimaschutzes nicht weiterzuentwickeln. Ein Gutteil des Reichtums der westlichen Welt beruht darauf, in der Vergangenheit so viele Treibhausgase emittiert zu haben – Deutschland etwa hat seit dem Beginn der Industrialisierung das Siebenfache seines Budgets verbraucht. Es muss also auch darum gehen, dass solche Länder Kompensationen für die Emissionen der Vergangenheit zahlen. Letztlich braucht es aber wohl auch eine Veränderung des marktkapitalistischen Systems.

STANDARD: Wäre zur Durchsetzung der "Klimawende" womöglich auch ein anderes politisches System besser geeignet als unsere repräsentative Demokratie?

Kitcher: Ich habe zu der Frage erst kürzlich einen Text geschrieben: "Can we sustain democracy, and the planet too?" Meine Antwort lautet Ja. Aber wir brauchen dafür eine Belebung demokratischer Strukturen. Ich erinnere in dem Zusammenhang an Tocqueville, der bei seinem Besuch in Amerika von den dortigen Treffen auf Gemeindeebene beeindruckt war und diese zum eigentlichen Herzstück der Demokratie erklärte. So etwas halte ich auch in der heutigen Situation im Zusammenhang mit dem Klimawandel für nötig.

STANDARD: Wie könnten solche Treffen konkret aussehen?

Kitcher: Im Idealfall könnten das ganz viele lokale Bürgerversammlungen von 25 oder 30 Personen sein, die gemeinsam besprechen, wie sich der Klimawandel auswirken wird und was gemeinsam dagegen getan werden könnte. In Frankreich hat man damit in kleinem Maßstab bereits begonnen. Diese lokalen Klimaräte sollten sich dann auf der jeweils nächsthöheren Ebene koordinieren. Wichtig dabei ist, dass auch die Menschen jener Regionen, die am stärksten betroffen sind, eine Stimme erhalten.

STANDARD: Was sollte man als einzelne Person am besten machen, um etwas möglichst Sinn- und Wirkungsvolles für den Klimaschutz zu tun?

Kitcher: Auf individueller Ebene nicht mehr zu fliegen, weniger mit dem Auto zu fahren oder kein Fleisch zu essen ändert relativ wenig. Wir werden das Problem nicht lösen, wenn es keinen Wandel in der Politik gibt. Insofern halte ich die Teilnahme an Klimastreiks oder an Klimamärschen als Druckmittel für wirkungsvoller. Man kann aber auch etwas "Leiseres" tun – und eine "lokale Diskussionsgruppe zum Thema Klimawandel gründen.

STANDARD: Wie weit können und sollen sich Klimaforscher aktivistisch einbringen? Der frühere österreichische Wissenschaftsminister Fassmann meinte unlängst in einer öffentlichen Diskussion, dass es nicht deren Aufgabe sei, eine CO2-Steuer zu verlangen und sich damit den Rock des Politikers anzuziehen.

Kitcher: Es gibt den alten Mythos, dass Wissenschafter bloß Fakten produzieren, und erst die Politik sorgt dann für die Werte. Das ist natürlich falsch, denn Forschung selbst ist niemals wertfrei: An welchen Dingen man forscht, wie man forscht – all das hat mit Werten zu tun. Viele engagierte Klimaforscher – wie in den USA etwa James Hansen – sind natürlich auch von solchen Werten angetrieben und wollen unseren Planeten für die nächsten Generationen bewohnbar erhalten. Sie kommen durch ihre Forschungen zum Schluss, dass der Klimawandel extrem bedrohliche Formen annehmen wird und wir jetzt etwas dagegen tun müssen. (Klaus Taschwer, 22.11.2019)