Am Anfang des Buches sieht man den „Urvater Kempf“ seine Heimat in Süddeutschland verlassen: Auf einem Floß macht er sich donauabwärts von Ulm aus auf den Weg, um im verheißenen „Transsilvanien“ ein neues Leben anzufangen. Das ist im Jahr 1770.

Vierzig Seiten später blendet der Roman ins 20. Jahrhundert, in die zehnte Generation der Kempfs. Die Donauschwaben sind eine Minderheit im Königreich Jugoslawien, die einen haben ihren Namen bereits slawisiert, die anderen entdecken ihr Deutschtum wieder, als 1941 aus Kroatien ein faschistischer Vasallenstaat wird. Georg Kempf, der Kaufmannssohn, fühlt sich der Herkunft seiner Väter kaum noch zugehörig, Georg nennt sich längst Ðuka.

"Das Zersprungene noch einmal zusammensetzen": Slobodan Šnajder hat ein Meisterstück europäischer Literatur verfasst.
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1943 zieht der „Volksdeutsche“ Kempf als „Zwangswilliger“ in den Krieg, er kommt in Polen hinter der Front zum Einsatz, bei der Waffen-SS-Division „Galizien“. Als einmal polnische Geiseln erschossen werden sollen, meldet er sich krank, und als er sich in die polnische Krankenschwester Ania verliebt, wechselt er endgültig die Seiten. Aber wo er wirklich steht, als er sich wenige Jahre später im kommunistischen Jugoslawien wiederfindet, weiß nicht einmal er selbst. Am Ende wird es von ihm heißen: „Kempf hatte im Leben nichts erreicht, außer ein Fremder zu bleiben.“

Gewalt und zerbrochene Lieben

Der kroatische Autor Slobodan Šnajder reflektiert diese Erfahrung gekonnt aus der Distanz, er erzählt die Geschichte auktorial: Der Erzähler ist allwissend und zugleich Kempfs Sohn – der wird zwar erst nach 1945 geboren, aber man kann ihn schon vorher mit der Stimme des Ungeborenen hören, die dann und wann als Kommentar eingeblendet wird. Am Ende ist es die Perspektive des Nachgeborenen, des letzten Kempf, der auf seine Vorfahren und die Verwicklungen der europäischen Geschichte zurückblickt.

Und hier sind wir beim Autor Šnajder selbst, der in diesem Roman die eigene Familiengeschichte aufleben lässt und sie in die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts einbettet, in eine Geschichte voller Gewalt und zerbrochener Lieben. Im Krieg kreuzt sein Held die Stationen des Grauens, er kommt an Auschwitz, an Treblinka vorbei, in der Heimat liegen jene Lager in der Nähe, in denen die Opfer der Faschisten, dann der Tito-Partisanen zu Tode kommen. Manche haben Kempf auf seinem Lebensweg begleitet.

Slobodan Šnajder, "Die Reparatur der Welt". Übers.: Mirjana und Klaus Wittmann. € 26,– / 544 Seiten. Zsolnay, Wien 2019
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Eine Kernszene im Buch – sie erklärt den Romantitel in der deutschen Übersetzung – spielt in den polnischen Wäldern, wo Georg mit dem Gelehrten Leon Mordechai in ein Streitgespräch über die Existenz Gottes gerät. Dabei erzählt Mordechai die Legende von dem in der kosmischen Urkatastrophe zerbrochenen Lichtgefäß – erst wenn das Licht wieder zu einem Ganzen zusammengefügt wird, kann die Welt gerettet werden. Dieser Vorgang heißt in der jüdischen Mythologie die „Reparatur der Welt“. Aber was sich schon wiedergutmachen? Kurz darauf fallen Kempf und sein Gefährte Kriminellen in die Hände, und die schlagen Mordechai den Schädel ein – weil er Jude ist.

Geschichte ist ungerecht

Auch für Kempf wird die Wiederherstellung der Harmonie im wirklichen Leben nie geschehen. Er ficht bis zum Ende seinen „kleinen polnischen Krieg“, zuletzt in den Reihen der Roten Armee, vielmehr des sowjetischen Geheimdienstes – da steht er schon wieder auf der falschen Seite und kann nicht einmal die Deportation seiner polnischen Geliebten nach Sibirien verhindern.

Geschichte ist ungerecht, lautet eine der Grundaussagen dieses Romans, und Kempf, der auch im Leben zwischen die Fronten gerät, ist aus ihr herausgefallen. Als er nach Hause kommt, ist die Geschichte der donauschwäbischen Vorfahren ausgelöscht. Georg wird Bibliothekar und Autor von ein paar Gedichtbänden, aber in der sozialistischen Gesellschaft bleibt er ein Außenseiter, und die Ehe mit der Partisanin Vera geht in die Brüche. Am Ende bleiben ihm seine Bücher und der Alkohol, und noch einmal geht die Zeit über ihn hinweg: Der Nationalismus im zerfallenden Jugoslawien besiegelt endgültig die Geschichte und schließt den Kreis.

Šnajder ist mit diesem Roman ein Meisterstück europäischer Literatur gelungen, ein Panorama der zersprungenen Welt, die ihr Erzähler nur im Blick auf das Gestern noch einmal zusammensetzen kann. So wie es die Toten sind, die in einem „Flickwerk aus Bildern und Erinnerungen“ Kempf die letzte Ehre erweisen: Bei seinem Begräbnis lässt Šnajder all die Figuren des Romans nochmals auftreten und das Mythische der Geschichte beschwören. (Gerhard Zeillinger, 23.11.2019)