Irgendwann sind den Klimaforschern die Farben für ihre Grafiken ausgegangen. Rot für heiße Zonen und hohe Temperaturen – das hat lange Zeit funktioniert. Das Rot wurde dunkler, wenn es wärmer wurde. Doch die Temperaturen hielten sich nicht an die Regeln, sie stiegen weiter und weiter, in den letzten Jahren vielerorts sprunghaft, von Jahr zu Jahr wird es immer noch heißer. Wie zeigt man diese Veränderung? Wie veranschaulicht man die immer neuen Extreme? Die Forscher griffen zu Lilatönen, zu einer Art Braun. Jedes Zehntelgrad bekam einen noch dunkleren Ton. Dann standen die vier Grad plus als Prognose im Raum.

Bei vier Grad plus wird es düster in den Grafiken, manchmal fast schwarz. Wir sehen das, und wir ahnen: Das wird ungemütlich, lebensfeindlich, global dramatisch. Versiegte Brunnen, verdörrte Äcker, gekippte Ökosysteme, Millionen Menschen auf der Flucht. Massensterben. Vier Grad plus im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter sind aber keine unwahrscheinliche Perspektive. Sie sind das Ergebnis jenes Kurses, den die Welt derzeit fährt. Sie sind ein realistisches Szenario, wenn der CO2-Ausstoß bleibt, wie er ist.

In diesem Fall wäre es im Jahr 2100 so weit mit den vier Grad plus. Das prognostiziert das renommierte Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung seit Jahren. Das predigen auch unzählige andere Institute auf der ganzen Welt – seit Jahren.

Nicht mehr versicherbar

Doch die große Kursänderung bleibt aus, das Zeitfenster beginnt sich zu schließen. Doch was bedeuten vier Grad plus? Welches Leben würden wir führen?

"Eine Vier-Grad-Welt ist nicht mehr versicherbar", formuliert es der deutsche Versicherungsverband in entwaffnender Klarheit. Die Überschwemmungen, Stürme und Hagelunwetter wären dann so regelmäßig und heftig, dass keine private Versicherung und kein Staat die Folgen auffangen könnten. Das mag die spezifische Sicht einer Branche auf einen Teil des Problems sein. Aber es zeigt, womit auch in unseren Breiten zu rechnen wäre.

"Wenn die Länder der Welt nicht sofort aktiv werden, wird der Klimawandel die Gesundheit einer ganzen Generation prägen", heißt es im Lancet-Bericht. Jetzt entscheide sich, ob es so kommt oder nicht.
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Wie Kinder leiden

Im Jahr 2100 ist ein Kind, das heute geboren wird, 81 Jahre alt. Schon in den Jahren und Jahrzehnten davor wird die Klimakrise sein Leben massiv geprägt haben. Das beschreibt eine neue Studie von 120 Expertinnen und Experten im Fachjournal Lancet sehr anschaulich. "Kinder leiden am meisten unter dem Klimawandel – gemeinsam mit alten Menschen und chronisch Kranken. Denn Schäden an der kindlichen Gesundheit wirken ein Leben lang", so Nick Watts, der den "Lancet Countdown on Health and Climate Change" leitet. Die ersten Jahre eines Menschen sind prägend für das, was in seinem weiteren Leben passiert, zumindest in gesundheitlicher Hinsicht. Zu wenig oder nährstoffarme Nahrung, verseuchtes Wasser, Kontakt mit Chemikalien – das schwächt Kinder nachhaltig und kann ihre Entwicklung verzögern. Es hinterlässt Spuren im Körper der Mädchen und Buben.

Auch Hitze und Krankheitserreger sind besonders für Kinder gefährlich, weil deren Immunsystem noch nicht sehr stark ist. Babys können ihre Körpertemperatur lange Zeit nicht selbst regulieren, ihr Kreislauf ist der Hitze ausgeliefert. Im schlimmsten Fall kann das zum Hitzschlag führen. "Auch Erkrankungen wie Durchfall oder Denguefieber setzen Kindern stark zu", heißt es im Lancet-Bericht, an dem Forscher aus vielen Bereichen der Wissenschaft und 35 Institutionen wie WHO und Weltbank mitgewirkt haben. Durchfall und Denguefieber finden in der Klimakrise ideale Bedingungen, weil Wasser öfter verunreinigt ist und sich Erreger gut vermehren. Denguemücken hatten es noch nie so gut wie in den letzten zehn Jahren. Und dem Choleraerreger kann nichts Besseres passieren als die Klimakrise.

Jetzt entscheidet sich, ob es so kommt

Noch nie wurden in Westeuropa höhere Temperaturen gemessen als in der vergangenen Dekade. Durch die Wärme blühen Pflanzen länger und häufiger, allergene Arten breiten sich aus, es segeln mehr Pollen durch die Luft. Das fördert Allergien.

Anderswo, in Sibirien, Australien, Brasilien und den USA, lodern die Flammen: Das wiederum fördert Asthma, Atemwegsprobleme und Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch bei Kindern. "Wenn die Länder der Welt nicht sofort aktiv werden, wird der Klimawandel die Gesundheit einer ganzen Generation prägen", heißt es im Bericht. Jetzt entscheide sich, ob es so kommt oder nicht.

Win-win-Situation

Die Forscher wollen aber nicht Angst und Schrecken verbreiten, sondern aufrütteln. Es gehe darum, den Weg in eine gute Zukunft für alle zu zeichnen. Der führe unweigerlich über radikalen Klimaschutz. "Wir wollen zeigen, welche Chancen im Wandel zur emissionsarmen Welt liegen." Die Transition verändere die Gesellschaft in vielen Bereichen positiv. Wer Kohlekraftwerke abschaltet, Städte fahrradfreundlich macht und das Auto zurückdrängt, schützt das Klima. Er oder sie sorgt aber auch dafür, dass die Luft besser ist, die Menschen sich mehr bewegen und weniger von ihnen im Straßenverkehr sterben.

Hier setzt auch Jens Wolling an, Professor für Empirische Medienforschung an der Technischen Universität Ilmenau: "Wir brauchen einen Entwurf von einem Leben, das besser ist als das Leben heute." Eine regionalere, kleinteilige und weniger konsumorientierte Lebensweise schont Ressourcen, bringt aber auch mehr Zeit für Freunde und Familie, weniger Stress im Beruf, gesundes Essen, umweltschonende Technik. "Das Ziel, den Klimawandel zu verhindern, wird auf Dauer nicht ausreichen", sagt Wolling. "Man muss auch wissen, wieso."

Vier Kernforderungen

Das Pariser Klimaabkommen sieht vor, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das gelingt nur, wenn die Länder ihre Klimaversprechen wahrmachen. Was hieße es für das heute geborene Kind, wenn das Abkommen hält? Es wäre sechs Jahre alt, wenn England aus der Kohle aussteigt. Mit 21 Jahren würde es erleben, wie in Frankreich die letzten Benziner und Diesel von der Straße verschwinden. Alle heute geborenen Kinder wären 31 Jahre, wenn nur mehr so viel CO2 produziert wird, wie die Natur verkraften und technische Mittel tilgen können.

Damit das gelingt, braucht es vor allem vier Dinge, notieren die Forscher in Lancet: Alle Länder müssen rasch aus dem Kohlestrom aussteigen. Reiche Staaten müssen arme Länder jährlich mit 100 Milliarden Dollar unterstützen, damit diese zum Klimaschutz finden. Der öffentliche Verkehr und die Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer müssen massiv ausgebaut werden. Und: Das Gesundheitssystem braucht viel Geld, damit Menschen, die unter der Klimakrise leiden, geholfen werden kann. Und damit die Versorgung neuen Herausforderungen standhält. (Lisa Mayr, 22.11.2019)

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