Kaum eine Substanz ist so gut erforscht wie Vitamin D. Wer sich regelmäßig im Freien aufhält und ausgewogen ernährt, braucht keine zusätzliche Dosis.

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Jeden Montag und Mittwoch gibt Maria Turnunterricht. Ihre Zielgruppe: hochbetagte Frauen und Männer. Kniebeugen machen ohne sich abzustützen, auf den Zehenspitzen stehen, das Becken kreisen lassen. Das Training soll den Gleichgewichtssinn verbessern und damit Stürze und Knochenbrüche vermeiden.

Es ist ihr nicht anzusehen, aber Maria genießt selbst schon seit acht Jahren ihren beruflichen Ruhestand. Mit 63 Jahren tauschte sie Arbeit gegen Sport, Reisen, Garten, Genuss und Entspannung. Ihr großes Glück: Von schweren Krankheiten blieb die 71-jährige Linzerin bisher verschont. Die Schilddrüse schwächelt ein bisschen, der Blutdruck ist ein wenig erhöht. Sonst nichts. Das soll auch so bleiben. Um die Knochen zu stärken, nimmt sie Vitamin D in Kombination mit Kalzium. Der Hausarzt hat ihr das Präparat zur Vorbeugung gegen Osteoporose verschrieben. Maria schluckt brav ihre Tabletten, schließlich weiß sie, wie schmerzhaft und gefährlich die Krankheit sein kann. Ihre Mutter litt an dem Leiden, das die Knochen brüchig werden lässt.

Marias Präventionsprogramm klingt zunächst plausibel: Vitamin D sorgt dafür, dass Kalzium und Phosphat aus der Nahrung aufgenommen werden können, es stärkt die Knochen und das Immunsystem, außerdem hilft es bei der Produktion von Insulin und Schilddrüsenhormonen. Zweifellos eine wichtige Substanz, die streng genommen gar kein Vitamin, sondern ein Hormon ist, das der Körper selbst herstellen kann. Dazu braucht er UV-Strahlung. Durch das Sonnenlicht entsteht in der Haut das sogenannte Prävitamin D3. Dieses gelangt über den Blutkreislauf in Leber und Niere, wo es zu Vitamin D umgewandelt wird. Dazu reicht es aus, täglich das Gesicht, den Hals und Teile von den Armen und Beinen etwa 15 Minuten lang von der Sonne bestrahlen zu lassen. Zehn bis 20 Prozent des Bedarfs können auch über die Nahrung gedeckt werden, etwa durch Butter, Eier, Pilze und fettreichen Fisch wie Lachs, Hering oder Makrele.

Für die meisten Menschen unnötig

In den vergangenen Jahren ist ein Hype um Vitamin D entstanden. Mittlerweile gibt es sogar Orangensaft mit einer Extraportion des Sonnenvitamins zu kaufen. Vor allem im Herbst und Winter, wenn die UV-Strahlung weniger stark ist, fürchten viele Menschen einen Mangel und damit gesundheitliche Probleme wie ein schwaches Immunsystem, Müdigkeit, Muskelkrämpfe und im schlimmsten Fall die Abnahme der Knochendichte. Es liegt also nahe, hier mit Nahrungsergänzungsmitteln nachzuhelfen. Einfach und bequem.

Die Crux an der Sache: Fast niemand braucht solche Produkte, nur einzelne Patientengruppen profitieren gesundheitlich davon. "Eine normal gesunde Person, die sich ausgewogen ernährt und regelmäßig im Freien bewegt, macht alles richtig und braucht keine Substitution von Vitamin D", sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin an der Donau-Universität Krems.

Das zeigen auch mehrere Metaanalysen und systematische Übersichtsarbeiten. Kaum ein Stoff ist so gut untersucht wie das Sonnenvitamin, das Fazit ist ernüchternd: Jene Bevölkerungsgruppen, die zusätzlich Vitamin D brauchen, sind überschaubar. Dazu zählen Babys, die jünger als ein Jahr sind und deren Haut vor direkter UV-Strahlung geschützt werden sollte, bettlägrige Patienten oder Menschen, die durch Krankheiten wie Krebs oder schwere COPD langfristig so geschwächt sind, dass sie kaum mehr an die frische Luft kommen.

Willkürliche Grenzwerte

Warum haben dennoch viele gesunde Menschen Angst, dass ihr Vitamin-D-Spiegel zu niedrig ist? "Die Kosten für die Bestimmung des Vitamin-D-Levels liegen in Österreich bei mehreren Millionen Euro jährlich", sagt Gartlehner. Mit zweifelhaftem Nutzen, denn bislang gibt es keinen Konsens darüber, ab welchem Grenzwert ein gesunder Mensch tatsächlich einen Mangel aufweist. "Das ist völlig willkürlich, für manche Mediziner beginnt er unter 45 Nanogramm pro Milliliter Blut, andere wiederum halten 25 Nanogramm für völlig ausreichend", erklärt Ingrid Mühlhauser, Gesundheitswissenschafterin der Universität Hamburg.

Sicher ist: Sinkt der Vitamin-D-Spiegel länger unter den Wert von 20 Nanogramm pro Milliliter Blut, können Kinder Rachitis und Erwachsene eine sogenannte Osteomalazie entwickeln, die schmerzhafte Erweichung der Knochen. "Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass gesunde Menschen diesen Wert unterschreiten", relativiert Gartlehner. Aus diesem Grund lehnen Experten ein generelles Vitamin-D-Screening im Rahmen der "Vorsorgeuntersuchung neu", die nächstes Jahr in Österreich umgesetzt werden soll, ausdrücklich ab.

Das Henne-Ei-Problem

Ein Grund für den Boom des Sonnenvitamins dürfte auch in den Verkaufsstrategien von Nahrungsergänzungsmittelherstellern zu finden sein, die ihre Produkte als Wunderwaffe gegen zahlreiche Krankheiten anpreisen. Wie etwa das österreichische Familienunternehmen Biogena, das sich auf Nahrungsergänzungsmittel spezialisiert hat, darunter auch Vitamin D in Form von Tabletten und Tropfen. Die Firma organisiert Vorträge, als Gastreferent wird regelmäßig Jörg Spitz, ein deutscher Facharzt für Ernährungs- und Präventionsmedizin, eingeladen.

Unter dem Titel "Vitamin D – Hype oder Hope" füllt er regelmäßig große Hörsäle, erklärt einem Laienpublikum, warum es die Präparate kaufen soll. In seinen Vorträgen werden zahlreiche Studien präsentiert, die das Publikum zum Staunen bringen und den Schluss nahelegen, dass ein Vitamin-D-Mangel neben Osteoporose und Rachitis auch Alzheimer, Depressionen, Diabetes Typ 2, Herzerkrankungen oder Krebs begünstigt. Was der Mediziner nicht dazusagt: Es handelt sich um Beobachtungsstudien, die lediglich Korrelationen aufzeigen, aber keine Kausalschlüsse zulassen. "Methodisch beobachten wir hier das Henne-Ei-Problem", sagt Gerald Gartlehner. Das heißt, es ist nicht klar, ob die Erkrankung einen Vitamin-D-Mangel hervorruft oder umgekehrt.

Demnach sei es beispielsweise nicht verwunderlich, wenn Patienten, die unter Depressionen leiden, auch wenig Sonnenvitamin im Blut haben. Die psychische Erkrankung macht antriebslos, "die Betroffenen sind teilweise so schwer krank, dass sie nicht mehr ins Freie kommen. Dementsprechend niedrig ist auch ihr Vitamin-D-Spiegel", ergänzt Gartlehner.

Kein Schutz vor Krebs

Relativ eindeutig sind die Befunde zu Krebs. In einer Studie mit mehr als 25.000 Probanden, die von Forschern der Harvard Medical School in Boston durchgeführt wurde, konnten nach fünf Jahren Laufzeit keine Hinweise darauf gefunden werden, dass Vitamin D vor Tumoren schützt. Auch das Ergebnis eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2014, in der die Daten von 50.000 Menschen ausgewertet wurden, zeigte, dass es für die Häufigkeit von Krebs keinen Unterschied macht, ob Vitamin-D-Präparate eingenommen werden oder nicht.

Auch Maria kann getrost auf ihre Vitamin-D-Tabletten verzichten: Sie schützen ebenso wenig vor Osteoporose wie vor Müdigkeit. Selbst Patienten, deren Knochendichte schon stark abgenommen hat, "profitieren nur minimal von einer Kombination aus Kalzium und Vitamin D", sagt Mühlhauser.

Wie sich der Körper selbst versorgt

Die gute Nachricht: Das Sonnenvitamin wird im Körper nicht sofort verbraucht, sondern für einige Monate im Fett- und Muskelgewebe gespeichert. Das genügt meist auch für die kalte Jahreszeit. Wie lange die Vorräte reichen, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Personen, die sich viel im Freien aufhalten, haben üblicherweise mehr Reserven als Stubenhocker. Ingrid Mühlhauser empfiehlt deshalb allen gesunden Menschen: "Keine Vitamin-D-Präparate kaufen, sondern den Winter genießen und sich auf den Sommer freuen." (Günther Brandstetter, 26.11.2019)