Die Klimaaktivistin Greta Thunberg wurde zuletzt auf einem Hochhaus in San Francisco verewigt, Klimaethiker Stephen Gardiner begrüßt ihr Engagement.

Foto: EPA / John G. Mabanglo

Der Klimawandel ist nicht nur eine naturwissenschaftliche Frage – für Stephen Gardiner, einen führenden Klimaethiker an der University of Washington in Seattle, ist er auch eine philosophische Herausforderung.

„Um vertretbare und effektive Schritte zu ergreifen, müssen wir das Problem richtig verstehen und entsprechend zu reden und zu denken lernen. Hier kann die Philosophie einen entscheidenden Beitrag leisten“, sagt er.

Das Problem besser zu verstehen erscheint umso dringlicher, als sich viele bisherige Anstrengungen als ineffektiv erwiesen haben. Insoweit zeigt sich für Gardiner, dass uns der Klimawandel moralisch zu korrumpieren droht: „Obwohl viele das Gefühl haben, dass wir uns moralisch fragwürdig verhalten, trösten wir unser schlechtes Gewissen mit erwartbar wirkungslosen Maßnahmen und stehlen uns aus der Verantwortung, statt zu tun, was erforderlich wäre. Zu oft handeln und denken wir auf eine Weise, die den Ernst der Lage verschleiert.“

„Kollektive Selbsttäuschung“

In diesem Sinne beschreibt der aus England stammende Philosoph die Gipfel von Kioto 1997, Kopenhagen 2009 und Paris 2016 als „Akte kollektiver Selbsttäuschung“: „Es wurden mit Trompeten und Fanfaren große Versprechen gemacht und dann nicht gehalten. Dabei war offenkundig, dass die Abkommen schwach, wenig erfolgversprechend und leicht zu unterlaufen waren.“

Wie kann es trotz weithin eingestandener Dringlichkeit zu so viel Aufschieben und Verleugnen kommen? Für Gardiner hat es mit der spezifischen Beschaffenheit dieser Herausforderung zu tun, die er als besonders harten Test unserer moralischen Verfassung beschreibt: „Beim Klimawandel sind die Verursacher oft nicht die Betroffenen. Das verdunkelt Verantwortungen und lässt die Versuchung unwiderstehlich erscheinen, uns kurzfristige Vorteile auf Kosten anderer zu gönnen, denen wir nie begegnen.“

Intergenerationale Verantwortung

Dabei denkt Gardiner etwa an Menschen in ärmeren Ländern, kommende Generationen und die Umwelt. Die globalen, generationenübergreifenden und ökologischen Dimensionen des Klimawandels verstärkten sich dabei gegenseitig zu einem „perfekten moralischen Sturm“ – eine Metapher, die er Sebastian Jungers Buch The Perfect Storm entlehnt, das die wahre Begebenheit eines Fischerboots schildert, das in den Kreuzungspunkt dreier sich potenzierender Stürme gerät.

Wie die Seeleute im Buch seien auch wir als Menschheit in einer Lage, in der unsere üblichen Navigationsinstrumente versagen: „In der Ethik und politischen Theorie fehlt es an Instrumenten, um adäquat über die Fragen nachzudenken, die der Klimawandel aufwirft.“

Ins Zentrum seiner Überlegungen stellt Gardiner dabei das Thema intergenerationaler Verantwortung. Sie sei von besonderer Wichtigkeit, weil die Folgen des Klimawandels zeitverzögert, dafür aber umso langfristiger eintreten: „Was uns nun einen bescheidenen Nutzen einbringt, wird für Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende schwerwiegende Folgen zeitigen.“

Darum begrüßt der Philosophieprofessor das Engagement von Greta Thunberg: „Sie weist zu Recht darauf hin, dass die Mächtigen in der älteren Generation ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind, und gibt damit vielen eine Stimme, die keine haben, insbesondere jenen, die noch nicht geboren worden sind.“

Globaler Verfassungskonvent

Nicht zuletzt ihr Aktivismus zeige, dass es mit Blick auf die Jungen und die kommenden Generationen einen „governance gap“ gibt: „Obwohl sich viele um das Schicksal ihrer Kinder und Kindeskinder sorgen, mangelt es an Institutionen, die deren Anliegen wirksam zur Sprache bringen.“ Um dieser Situation Abhilfe zu schaffen tritt Gardiner für einen globalen Verfassungskonvent ein, der die Belange zukünftiger Generationen in den Blick nehmen soll.

Als Vorbild denkt er an die USA: Die ehemaligen britischen Kolonien in Nordamerika, nach der Unabhängigkeit 1776 zunächst als lose Konföderation souveräner Staaten ohne gemeinsame Regierung organisiert, hätten bald erkannt, dass sie viele Probleme nur durch eine engere Vereinigung lösen könnten – und gaben sich deswegen 1787 die noch heute gültige US-Verfassung.

„Die Gründerväter haben institutionelle Arrangements entwickelt, die mögliche Gefahren in der fernen Zukunft abwenden sollten, etwa eine zu große Konzentration von Macht in wenigen Händen.“

Analog solle der globale Verfassungskonvent Arrangements entwickeln, die den Belangen zukünftiger Generationen eine wirksame institutionelle Form geben, dabei aber auch Werte wie Freiheit und individuelle Rechte schützen.

Um diese Ziele miteinander zu versöhnen, seien neue, innovative Ideen gefragt, weswegen in einem ergebnisoffenen Prozess unterschiedliche Vorschläge entwickelt und diskutiert werden sollten. „Dieser Prozess ist wichtig, um die beste Lösung zu finden, aber auch, um die Akzeptanz des Ergebnisses zu erhöhen.“

Nutzen und Schaden

Wer genau auf dem Konvent berät und wie er sich konstituiert, will Gardiner erst im Buch verraten, das er gerade schreibt. Am Rande einer Tagung an der Uni Wien stellte er aber klar, dass sich anders als in Kioto, Kopenhagen und Paris nicht nur Vertreter nationaler Regierungen mit ihrem Fokus auf kurzfristige ökonomische Interessen gegenübersitzen sollten.

Um aus der „Tyrannei der Gegenwart“ und der „Geiselnahme der Zukunft“ auszubrechen, könnte es helfen, den Blick zu weiten: Würde auf dem Konvent über das Missverhältnis von kurzfristigem Nutzen und langfristigem Schaden auch etwa in Bezug auf Atomenergie oder konventionelle Landwirtschaft diskutiert, könnte dies Spannungen lösen, die sich mittlerweile spezifisch mit dem Klimawandel verbinden.

So utopisch ein solcher Konvent klingen mag – auf einfach scheinende Lösungen wie freiwillige Verhaltensänderungen von Konsumenten und Unternehmen oder technische Innovationen zu warten sei keine Alternative.

Im Gegenteil, der Klimaethiker sieht viele solcher Überlegungen ihrerseits als Teil der moralischen Korruption an – als Rede- und Denkweisen, mit denen wir verschleiern, wie ernst das Problem ist, und uns aus der Verantwortung zu stehlen versuchen. (Miguel de la Riva, 2.12.2019)