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Kein Weiterkommen mehr gab es für die unzähligen Demonstranten in der Istanbuler Istiklal-Straße: Zahlreiche Polizisten ließen sie nicht mehr durch.

Foto: Reuters / Cansu Alkaya

Nur noch selten werden in der Türkei Proteste genehmigt, schon gar nicht im Zentrum von Istanbul. Eine Demonstration gegen Gewalt an Frauen zu verbieten haben sich die Behörden dann aber doch nicht getraut: Zu brisant ist das Thema, zu groß die Aufmerksamkeit in einer Zeit, da eine Reihe von Morden an Frauen die Türkei aufgeschreckt hat. So konnten sich am Montag einige Tausend Menschen auf der Istanbuler Istiklal-Straße versammeln, um gegen die Kultur der Straflosigkeit zu demonstrieren, die ihrer Meinung nach in der Türkei herrscht.

Laut und fordernd waren die Frauen, die sich im Licht brennender Leuchtstäbe am frühen Abend auf der Einkaufsmeile hinter einem Banner drängten. „Wir werden nicht den Verlust einer einzigen weiteren Frau akzeptieren“, hieß es auf dem violetten Transparent. Seit Jahresbeginn wurden in der Türkei bereits 381 Frauen getötet – meist von Ex-Partnern oder Verwandten. 2018 waren es sogar 399 nach Zählung einer Frauenrechtsgruppe.

Der Fall Sule Çet

„Wir wollen leben“ und „Stoppt die Straflosigkeit“, stand auf Plakaten der Demonstrantinnen, während gellende Pfiffe die Straße erfüllten. Andere trugen Schilder mit den Namen der Getöteten, darunter Sule Çet. Die 23-Jährige war in einer Nacht im Mai aus dem 20. Stock eines Hochhauses in Ankara gestürzt. Seitdem ist ihr Fall zum Symbol geworden für die Kultur der Gewalt und eine Justiz, die bei Verbrechen an Frauen oft seltsam milde ist.

Im Fall von Sule Çet sahen die Richter zunächst keinen Grund, die beiden Männer festzunehmen, mit denen sie in jener Nacht im Zimmer war. Sie hatten ausgesagt, die Studentin habe sich das Leben genommen. Obwohl vieles gegen Suizid sprach, schenkten ihnen die Ermittler Glauben. Erst nach Protesten von Frauen kamen sie vor Gericht. So geht es in vielen Fällen von Gewalt an Frauen, beklagen Frauenrechtsgruppen.

Hundert tödliche Schicksale

Bei einer Kundgebung im September verlasen Aktivistinnen am Fährhafen von Kadiköy in Istanbul die Geschichten von hundert Frauen, die Opfer eines Femizids wurden – also ermordet wurden, weil sie Frauen waren. Die Geschichten von hundert Frauen vorzutragen dauert lange. Und doch sind sie nur ein Teil jener, die jedes Jahr in der patriarchalen Gesellschaft der Türkei ermordet werden, viele aus einem falschen Verständnis von Ehre.

Die islamisch-konservative Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat eine Reihe von Gesetzen zum Schutz von Frauen erlassen und versichert, null Toleranz für Gewalttäter zu zeigen. Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am Montag präsentierte Familienministerin Zehra Zümrüt Selçuk einen neuen Aktionsplan gegen häusliche Gewalt und zum Schutz der Rechte von Frauen.

Erdogans Ehefrau Emine trat dabei aber dem Eindruck entgegen, dass es mehr Morde gebe. Grund für die seit Jahren steigenden Zahlen sei ihrer Meinung nach vielmehr, dass mehr Fälle als früher angezeigt würden. Die Plattform „We will stop femicide“ sieht darin aber nur einen Teil der Erklärung. Sie führt die steigende Gewalt darauf zurück, dass viele Männer noch immer nicht akzeptieren können, dass Frauen selbstbestimmter leben wollen.

Wasserwerfer und Pfefferspray

„Schweigt nicht zur Gewalt der Männer“, forderten die Demonstrantinnen am Montagabend auf der Istiklal-Straße und setzten sich in Richtung des Taksim-Platzes in Bewegung. Doch mehrere Reihen von Polizisten in Kampfmontur versperrten die Straße, dahinter waren Wasserwerfer aufgefahren. Die Frauen riefen und drängten voran, doch plötzlich brach Panik aus, Reizgas erfüllte die Straße. Hunderte suchten hustend in den Nebengassen Zuflucht.

Frauen leben in der Türkei gefährlich. Doch wenn sie auf der Straße ihre Rechte geltend machen, gelten sie der Regierung nicht als gefährdet, sondern als Gefahr. (Ulrich von Schwerin aus Istanbul, 26.11.2019)