Im Gastkommentar zeigt der Autor und SPÖ-Kenner Robert Misik die Probleme der Partei auf. Mit der Parole "Zurück zum Proletariat" mache man es sich zu einfach, findet Misik, auch Programmdebatten brauche niemand – und Bunkerstimmung sowieso nicht.

Die SPÖ ist in Schieflage – und muss sparen.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Ist man einmal in den freien Fall übergegangen, dann geht es bergab, und das Gefühl schleicht sich ein, dass dieser überhaupt nicht mehr zu bremsen ist. So ähnlich dürfte es sich zurzeit für die Sozialdemokraten anfühlen.

Für die SPÖ kommt noch hinzu: Vor den Wahlen im Burgenland, vor allem aber vor jenen in Wien wäre es nötig, eine Beruhigung und Stabilisierung der Lage herbeizuführen. Zugleich bedeutet Stabilisierung aber die Verlängerung des gegenwärtigen Zustandes – und damit das Gegenteil von Beruhigung. Man kann keinen Streit brauchen, aber auch keine Bunkerstimmung. Quadratur des Kreises nennt man das.

Die Parteivorsitzende hat sich nach einer Reihe von haarsträubenden Fehlern mit ihrem engsten Kreis in der Löwelstraße eingemauert, und die Frage, die praktisch an allen Ecken und Enden der Partei gestellt wird, lautet: Kann’s mit denen überhaupt noch gehen? Soll nicht doch eher Gerhard Zeiler ran, der am Mittwoch sein Buch im Kreisky-Forum vorstellt, das er nicht als Bewerbungsschreiben verstanden haben will? Oder ein jüngerer, energetischer Typ, etwa aus der Gewerkschaft? Oder kann Pamela Rendi-Wagner noch einmal die Kurve kriegen, wenn sie die Figuren, die sie in dieses Desaster manövriert haben, endlich feuert?

Toxische Grabenkämpfe

Und sowieso hat die Krise der SPÖ so viele Ursachen, dass es mit dem Drehen an einem Zahnrad nicht getan ist. Erstens hat der desolate Zustand der Partei viel mit den Geschehnissen der vergangenen Jahre zu tun. Mindestens drei Vorgänge haben so viele Wunden geschlagen, dass viele Spitzenleute durch chronisches Misstrauen, wenn nicht durch offene Feindschaft verbunden sind: die langen Diadochenkämpfe um die Nachfolge von Michael Häupl in Wien, der Sturz von Werner Faymann und die gescheiterte Kanzlerschaft von Christian Kern (sowie die Umstände seines Abganges). Man muss sich allein folgende Tatsache vor Augen führen: Mit den letzten vier Vorsitzenden der SPÖ – Kern, Faymann, Alfred Gusenbauer und Viktor Klima – würde sich im Moment kaum eine aktuelle Führungsperson gern fotografieren lassen.

Der Zerfall der Partei in Seilschaften verbindet sich auf toxische Weise mit den schwierigen Diskussionen um eine inhaltliche und symbolische Neuausrichtung. Nicht, was jemand sagt, zählt, sondern die Mutmaßung, warum er es sagt – und welche offenen Rechnungen er oder sie begleichen will.

Die Quadratur des Kreises

Dabei ginge es auch bei der Strategiesuche um die Quadratur des Kreises. Völlig klar ist, die Sozialdemokratie muss wieder zum glaubwürdigen Fürsprecher der einfachen Leute werden, die heute oft das Gefühl haben, für sie würde sich niemand mehr interessieren, die "politischen Eliten" – Sozialdemokraten inklusive – hätten sie einfach weggehängt. Die Sozialdemokratie muss wieder die Stimme der Unterprivilegierten werden, schon allein deshalb, weil das einfach ihre historische Aufgabe ist.

Doch mit der Parole "Zurück zum Proletariat", die langsam in Mode kommt, macht man sich die Sache auch viel zu einfach. Eine Sozialdemokratie, die die progressiven, urbanen, linksliberalen Mittelschichten aufgibt, wird den freien Fall nicht stoppen können. Arbeiter und untere Mittelschichten hat man erst Richtung FPÖ, dann sogar Richtung Kurz-ÖVP verloren, die modernen Progressiven jetzt auch noch in Richtung Grüne. In Graz wurde man nicht nur von den Grünen überrundet, sondern sogar von der KPÖ beinahe überholt.

Rote Gruppentherapie

Eine erfolgreiche Sozialdemokratie ist immer ein großes Zelt, unter dem verschiedene Milieus vereinigt sind. Um einen solchen Balanceakt hinzubekommen, braucht es glaubwürdige Figuren an der Spitze, die authentisch sind. Und zwar mehrere. Auch ein Franz Vranitzky hat seine 42 Prozent nur geholt, weil die Partei in verschiedene Richtungen ausstrahlte. Da gab es auf der einen Seite Rudolf Scholten oder Caspar Einem, auf der anderen Josef "Jolly" Hesoun.

Im jetzigen Zustand brauchte die Partei wohl so etwas wie eine Gruppentherapie, oder alternativ dazu, verbindende Leute, die einmal alle Akteure der vergangenen Grabenkämpfe so lange in einen Raum einsperren, bis die sich zusammengerauft und begriffen haben, dass mit dem Gegeneinander endlich Schluss sein muss. Unterschiede in Stil, Herkunft und auch politischer Linie waren immer die Stärke einer breiten Partei – aber nur dann, wenn es Grundvertrauen und Akzeptanz dafür gibt, dass einem bei allen Unterschieden mehr verbindet als trennt.

Nicht herumlavieren

Programmdebatten, die sowieso nur Papierkram bleiben, braucht niemand. Die Sozialdemokratie muss ein Garant für eine offene, fortschrittliche Gesellschaft sein und da nicht herumlavieren – dann wird sie Mehrheiten der urbanen, progressiven Mittelschichten, der Jungen, der Studierenden, der Akademiker wieder für sich gewinnen können. Und sie muss jenen, die sich als die "einfachen Leute" verstehen und in deren Leben sich chronische Konkurrenz hineingefressen hat, wieder zeigen, dass sie auf ihrer Seite steht – und alles tut, wieder mehr Sicherheit in ihr Leben zu bringen. Diese Menschen erwarten nicht, dass morgen Milch und Honig fließen, aber wenigstens, dass die Sozialdemokraten für sie kämpfen wie die Löwen.

Die SPÖ muss zurück zu ihren Wurzeln, damit die Leute, die es schwer im Leben haben und es sich nicht selbst richten können, sagen, "das sind wieder echte Sozis". Aber sie muss auch das Lebensgefühl jener treffen, die für Demokratie, Vielfalt und einen liberalen Geist unserer Gesellschaft brennen, für Respekt für alle statt für gehässiges Gegeneinander.

Wenn man die Fenster aufmacht und Luft hereinlässt – statt sich einzubunkern –, ist das vielleicht gar nicht so schwierig. (Robert Misik, 26.11.2019)