ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter.

Foto: ORF/Ramstorfer

Wien – Frauen durften bis 1918 nicht wählen. Der Mann war bis 1975 als Oberhaupt der Familie im Gesetz verankert. Bis vor 40 Jahren konnte der Ehemann das Arbeitsverhältnis seiner Frau einfach kündigen. Der Kampf um Gleichstellung war hart. Wie hart er war und dass er noch lange nicht abgeschlossen ist, zeigt ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter anhand der Geschichte dreier Frauen, die im Alter von 100 Jahren und mehr für ihre Träume kämpfen – zu sehen ist "Nie zu spät – Die Träume der Hundertjährigen" am Donnerstag um 20.15 Uhr im Hauptabend von ORF 1. Gadenstätter garniert die Vita der drei Frauen mit historischen Hintergrundinfos und Expertinneninterviews.

STANDARD: Sie haben mit der – persönlich gehaltenen – Reportage "Was hat der Holocaust mit mir zu tun?" im Rahmen der "Dok 1"-Schiene debütiert. Jetzt beschäftigen Sie sich mit den Träumen der Hundertjährigen – auch aufgrund einer persönlichen Geschichte, jener Ihrer Großmutter, die heuer 100 Jahre alt geworden wäre. Braucht es einen persönlichen Zugang beziehungsweise erleichtert das die Arbeit?

Gadenstätter: Grundsätzlich braucht es für eine Doku keinen persönlichen Zugang. In meinem Fall ist es allerdings so, dass ich sehr gerne persönliche Geschichten und Zugänge wähle, weil ich finde, dass man sich so noch besser mit einem Thema identifizieren kann. Jeder von uns hat seine persönlichen Geschichten. Und in diesem Fall war es so, dass ich mit ein paar Leuten gesprochen habe und gefragt habe: "Habt ihr mit euren Großeltern eigentlich über solche Themen wie Frauenwahlrecht oder Träume gesprochen?" Ich hatte nämlich das Gefühl, dass ich meine Oma da zu wenig gefragt habe. Und alle haben mir gesagt: "Ja, wir kennen das auch. Auch wir hätten unsere Großeltern gerne noch mehr ausgefragt." Und so ist dann die Idee zur Doku entstanden.

STANDARD: Sie sagen, dass Sie Ihrer Oma noch gerne viele Fragen gestellt hätten. Welche zum Beispiel?

Gadenstätter: Ich habe mit meiner Oma tatsächlich wenig über ihre Jugend gesprochen. Ich habe Sie zum Beispiel nie gefragt, was sie als junges Mädchen eigentlich werden wollte. Oder ob sie damals überhaupt die Chance gehabt hat, ihre Träume zu leben. Sie hat mir ein paar Mal von ihrer Zeit auf dem Bauernhof erzählt, wo sie aufgewachsen ist. Und vom Krieg, aber nie wirklich ausführlich. Manchmal bereue ich, dass ich sie nicht noch mehr ausgefragt habe.

STANDARD: Es geht um Geld, Gleichstellung, Frauenwahlrecht, Abtreibungen und viele unerfüllte Träume. Was hat Sie bei den Interviews am meisten überrascht?

Gadenstätter: Am meisten überrascht hat mich, dass für meine drei Interviewpartnerinnen die Einführung des Frauenwahlrechts keine große Sache war. Aus einem einfachen Grund: Für sie waren zur damaligen Zeit andere Dinge wichtiger. Die 100-jährige Neo-Politikerin Frau Heise hat zum Beispiel gesagt: "Ach, Liebes, da war ja dann Krieg, wir hatten andere Dinge zu tun." Und da ist mir bewusst geworden, dass historische Meilensteine womöglich oft erst später als solche wahrgenommen werden.

Lisel Heise ist 100 Jahre alt und Neo-Politikerin.
Foto: ORF

Was mich noch überrascht hat, war, wie unglaublich fit die drei Frauen waren. Bei einer Dame waren zwar die Augen schlecht, alle haben etwas schlechter gehört – aber die Erinnerungen waren noch so präsent. Und alle drei haben noch Träume und ein wunderschönes Glitzern in den Augen.

STANDARD: Welche Geschichte hat Sie am meisten berührt?

Gadenstätter: Am meisten berührt hat mich eine Geschichte, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so spektakulär klingt. Die 106-jährige Frau Zamikal hat über Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau erzählt. Sie hatte eine Schwester und einen Bruder. Bevor ihr Vater von der Arbeit nach Hause kam, mussten die Kinder aufräumen. Der Bruder hat das nie gemacht, und der Vater ist auch immer über den am Boden liegenden Matador-Haufen drübergestiegen. Dann hat er ein kleines Puppenkleidchen von Frau Zamikal am Boden gesehen, ist hingegangen und hat es vor ihren Augen ins Feuer geworfen. Frau Zamikal hat ihre Mutter dann mal gefragt, warum der Vater das macht, warum er bei ihr böse ist und beim Bruder nicht. Und die Mutter hat gesagt: weil dein Bruder ein Bub ist.

Margarete Zamikal hat mit 106 Jahren noch Träume. Lisa Gadenstätter holt sie vor den Vorhang.
Foto: ORF

STANDARD: Eine Protagonistin ist mit 100 Jahren Politikerin geworden, die zwei anderen erfüllen sich spät ihre Träume. Was können Jüngere von den Protagonistinnen lernen?

Gadenstätter: Dass es nie zu spät für Träume ist. Und dass viele Rechte für Frauen hart erkämpft wurden und wir auf diese Rechte aufpassen müssen.

STANDARD: Was bewundern Sie an ihnen am meisten?

Gadenstätter: Ich bewundere den Humor der Frauen und ihre positive Einstellung zum Leben. Frau Zamikal zum Beispiel macht nach wie vor in der Früh selbstständig ihr Bett. Sie mag es überhaupt nicht, wenn sie mal eine halbe Stunde später aufgeweckt wird. Schließlich muss man den ganzen Tag ja ausnutzen. Und Frau Rupar bewundere ich für ihren Auftritt im Orpheum in Graz. Sie hat ja gemeinsam mit Clara Luzia bei der Eröffnung gesungen. So etwas würde ich mich in meinem ganzen Leben nicht trauen.

Anna Rupar steht im 105. Lebensjahr und mit der österreichischen Sängerin Clara Luzia auf der Bühne.
Foto: ORF

STANDARD: Es kommen ausschließlich Frauen zu Wort. War Ihnen das ein Anliegen?

Gadenstätter: Mir war wichtig, mit den drei alten Frauen zu sprechen und sie mit ihren jungen "Pendants" zusammenzubringen. Zu zeigen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir Frauen unsere Wunschberufe ausüben können. Dass dann nur Expertinnen zu Wort kommen, hat sich einfach ergeben. Wir haben zu den Themen recherchiert und sind sofort auf diese Frauen gestoßen. Sie haben dazu geforscht und sind Koryphäen auf ihren Gebieten. Das Geschlecht hat bei der Auswahl aber keine Rolle gespielt – sollte es übrigens nie.

STANDARD: Es geht auch um sogenannte Engelmacher und die Geschichte illegaler Abtreibungen. Was heute – zumindest bei uns – eine Selbstverständlichkeit ist, war lange verboten und endete oft mit dem Tod. Hat Sie das Ausmaß überrascht? Die Rede ist auch von 730.000 Kindern, die alleine in Wiener Gebär- und Findelhäusern zur Welt gekommen sind.

Gadenstätter: Es hat mich sehr überrascht. Ich kannte das "Tor der heimlich Schwangeren" nicht. Auch die Geschichten der Frauen, die dort hingekommen sind, haben mich bedrückt. Reichere Frauen haben für die anonyme Geburt bezahlt. Ärmere Frauen haben salopp gesagt mit ihrem Körper für die Wissenschaft bezahlt. Ärzte waren bei diesen Geburten dabei und haben so gelernt, wie eine Geburt funktioniert. Bei den reichen Frauen waren nur Ärztinnen im Einsatz.

STANDARD: Die "Dok 1"-Sendungen haben eine eigene, persönliche Note. Funktioniert das Format schon zu Ihrer Zufriedenheit, und wie weit sollen die Macher ein Teil der Sendung sein?

Gadenstätter: "Dok 1" hat viele Stammseherinnen und Stammseher und wird sehr gut angenommen. Das Prinzip von "Dok 1" ist, dass ein Host durch die Sendung führt. Ich wähle gerne den persönlichen Zugang, aber inwieweit sich jemand einbringt oder nicht, das ist jedem der vier Hosts selbst überlassen.

STANDARD: Sind Sie mit der Zuseherakzeptanz zufrieden? Der Talk im Anschluss verliert meist deutlich Seher. So kommt die "Dok 1"-Reihe um 20.15 Uhr auf durchschnittlich 260.000 Zuseher, der Talk im Anschluss um 21.05 Uhr auf 169.000. Müsste man noch an Schrauben drehen, oder braucht es einfach Zeit, so ein Format zu etablieren?

Gadenstätter: Mit "Talk 1" haben wir um 21.05 zu einer außergewöhnlichen Zeit einen Talk gestartet, zu einer Zeit, in der Talksendungen "nicht gelernt" sind. Ich bin mit der Akzeptanz schon sehr zufrieden. Wir gestalten am Donnerstag aber einen sehr guten Themenabend, "Dok 1" und "Talk 1" ergänzen sich hier wirklich gut. Und wir bekommen übrigens auch viele Reaktionen von Zuseherinnen und Zusehern. (Oliver Mark, 27.11.2019)