April 2019: Proteste gegen die Abfallreform in der Region Archangelsk.

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Am vergangenen Mittwoch war Denis Buzajew noch obenauf. Im 90. Stock des Moskauer Hochhausturms Federation Tower referierte der Chef der nationalen Abfallholding „Russischer Ökologischer Operator“ (REO) vor deutschen Unternehmern zu den Chancen der Abfallreform in Russland. Die Deutschen versprechen sich gute Geschäfte von der Umstellung der Abfallentsorgung in Russland weg von der Deponielagerung hin zu mehr Verarbeitung. Die Auslandshandelskammer entwickelte eigens eine Website, um bei russischen Unternehmen für eigene Technologien zu werben. Ebenso hoffen japanische, italienische und auch österreichische Unternehmen auf lukrative Aufträge.

Auf die Unterstützung Buzajews können sie alle aber nicht mehr bauen. Der Topbeamte wurde kurz nach seinem Auftritt selbst entsorgt. Die schleppende Umsetzung der Reform, die wirtschaftliche Schieflage vieler regionaler Entsorger und soziale Proteste haben Buzajew den Job gekostet. Nun soll der ehemalige Bauminister Michail Men die Branche auf Vordermann bringen.

Dabei ist die Notwendigkeit der Reform unbestritten: In Russland lagern fast 40 Milliarden Kubikmeter Müll auf geschätzt 30.000 Deponien, gut die Hälfte davon illegal. Deren Fläche entspricht der Schweiz. Pro Jahr kommen allein 70 Millionen Tonnen an Haushaltsabfällen hinzu. Verarbeitet werden davon weniger als fünf Prozent.

Brand, Gestank und Seuchen

Den Anwohnern bereiten die Deponien seit langem Kopfschmerzen. Die Müllhalden verseuchen Boden und Wasser, das bei der Zersetzung organischer Abfälle entstehende Deponiegas stinkt nicht nur fürchterlich, sondern verursacht im Sommer auch regelmäßig Deponiebrände. Zudem locken die verwesenden Reste Ungeziefer an, das Krankheiten verbreiten kann.

Landesweit sorgte das Thema für Aufsehen, als sich Bewohner der Moskauer Satellitenstadt Balaschicha 2017 bei einer der Livefragestunden Wladimir Putins über die naheliegende Müllkippe beklagten. Putin versprach, sich um das Thema zu kümmern. Der Startschuss für die Reform war gefallen.

Die formulierten Ziele sind durchaus ehrgeizig: In fünf Jahren sollen bereits 60 Prozent der Abfälle sortiert, immerhin 36 Prozent verarbeitet werden. Vier Milliarden Euro soll der Aufbau der Infrastruktur kosten, ein Drittel davon will der Kreml bereitstellen, den Rest sollen private Investoren beisteuern. Doch passiert ist bisher wenig. Neben der Staatsholding REO wurden zwar in den meisten Regionen schon Operatoren bestimmt, die verantwortlich für die Umsetzung vor Ort sind.

Doch der Aufbau von Sortier- und Recyclinganlagen zieht sich in die Länge. Mülltrennung ist für die Russen weiterhin ein Fremdwort. Die meisten von ihnen haben die Reform einzig an ihrer Nebenkostenabrechnung bemerkt, die heuer in einigen Regionen wegen der Müllkosten deutlich gestiegen ist. Angesichts stagnierender Löhne ruft das Unzufriedenheit hervor.

Proteste im Sommer

Und während die Menschen im Moskauer Umland nach der Schließung einiger Deponien befreit aufatmen, regt sich in den Regionen, die Leidtragende dieser Entscheidung sind, wütender Protest. Denn der Müll wird nun einfach quer durch das Land gekarrt und landet beispielsweise in der 1000 Kilometer entfernten nordrussischen Region Archangelsk. Die dortige Kleinstadt Schijes als geplanter Endpunkt des Moskauer Mülls ist gar zum Zentrum sozialer Proteste im unruhigen Sommer 2019 in Russland geworden. (André Ballin aus Moskau, 27.11.2019)