Solenodon paradoxus, ein entfernter Verwandter von Spitzmäusen, Maulwürfen und Igeln, ist der seltene Fall eines giftigen Säugetiers.
Foto: Lucy Emery

Gift ist eine Waffe, die viele Wirbeltiere im Köcher stecken haben. Allerdings ist sie sehr unterschiedlich verteilt: Unter Knochen- und Knorpelfischen sowie Amphibien ist Gift weit verbreitet. Bei der Gruppe, die früher Reptilien hieß, beschränkt es sich auf Schlangen und Echsen – giftige Schildkröten oder Krokodile gibt es hingegen nicht. Und die Vögel setzen komplett aus, sieht man von der einen oder anderen Art ab, die durch die Aufnahme giftiger Nahrung so viel an Toxinen im Körper anreichert, dass sie selbst ungenießbar wird.

Und die Säugetiere? Da gibt es nur ein paar Beispiele, und die sind weit über den Stammbaum verteilt. So hat das Schnabeltier einen Giftsporn an der Ferse und der Kayan-Plumplori, ein urtümlicher Primat, einen giftigen Biss, der allerdings auf recht umständliche Weise zustande kommt: Die Giftdrüse sitzt am Arm, der Lori muss also erst daran lecken, damit sich das Gift im Speichel verteilt. Von der Eleganz und Effektivität einer Giftinjektion, wie sie Schlangen praktizieren, ist das weit entfernt.

Wo Gifteinsatz etwas üblicher ist

Die größte "Ballung" an giftigen Säugetieren findet man unter den Insektenfressern, konkret bei den Spitzmäusen und den nur in der Karibik vorkommenden Schlitzrüsslern. Letztere haben sich Forscher der Liverpool School of Tropical Medicine und der Zoological Society of London nun genauer angeschaut und ihre Ergebnisse im Fachjournal "PNAS" vorgestellt.

Schlitzrüssler (Solenodontidae) sehen selbst ein bisschen wie Spitzmäuse aus, allerdings im XL-Format. Inklusive Schwanz können sie über einen halben Meter lang werden. Das Nervengift, das sie in ihren Speicheldrüsen produzieren, fließt durch eine Furche an einem ihrer Schneidezähne in die Wunde des Opfers. Gegen Fressfeinde – von denen es bis zur Ankunft des Menschen und seiner Haustiere in der Karibik ohnehin kaum welche gab – wird es nicht eingesetzt. Es dient allein dazu, die Beute zu lähmen: Insekten, Würmer und kleine Wirbeltiere.

Über diesen Zahn läuft das Gift in die Wunde.
Foto: Nicholas Casewell

Das Team um den Liverpooler Forscher Nick Casewell konzentrierte sich auf den Dominikanischen Schlitzrüssler (Solenodon paradoxus), der nur in den Wäldern der Insel Hispaniola vorkommt. Zum einen führten sie DNA-Analysen des Tiers und Vergleiche mit anderen Säugetieren durch, zum anderen entnahmen sie wildlebenden Schlitzrüsslern Gift und analysierten es im Labor. Als zentrale Bestandteile entpuppten sich Varianten von Kallikrein, einem Enzym aus der Gruppe der Serinproteasen. Diese wirken laut den Forschern blutdrucksenkend – milde ausgedrückt, immerhin kann diese Absenkung heftig genug sein, um eine Maus zu töten.

Kallikrein kommt in seiner Grundform in den Speicheldrüsen vieler Säugetiere vor, auch des Menschen. Was die Forscher überrascht hat, ist der Umstand, dass sich daraus beim Schlitzrüssler eine giftige Form entwickelt hat, die stark der von giftigen Spitzmäusen ähnelt. Diese beiden Tiergruppen sind laut Gen-Analysen schon vor 70 Millionen Jahren getrennte Wege gegangen, der Giftapparat ist also ein Fall von konvergenter Evolution. Insgesamt sind der Studie zufolge viermal unabhängig voneinander Insektenfresserarten giftig geworden. Casewell nennt es "ein faszinierendes Beispiel dafür, wie die Evolution neue Anpassungen über wiederholbare Pfade führen kann".

Ein Schlitzrüssler in seinem natürlichen Habitat – leider ist dieses Habitat aber nicht nur laufend am Schrumpfen, sondern auch von importierten Raubtieren durchsetzt.
Foto: Rosalind Kennerley

Samuel Turvey von der Zoological Society of London bezeichnet den Dominikanischen Schlitzrüssler als "eines der faszinierendsten Tiere der Welt". Weder das noch sein Giftapparat helfen ihm jedoch in seiner aktuellen Notlage. In beiden Staaten, die sich die Insel Hispaniola teilen – Haiti und die Dominikanische Republik –, setzen ihm die Zerstörung seines Lebensraums und verwilderte Haustiere wie Katzen, Hunde oder Mungos zu. Auf der Roten Liste ist er seit Jahrzehnten als stark gefährdet vermerkt. (jdo, 27.11.2019)