Wien – Immer mehr Institutionen aus den verschiedensten Teilbereichen von Wissenschaft und Kunst digitalisieren ihre Bestände: Im Grunde ein erfreulicher Trend, der vieles, das ansonsten nur vor Ort zugänglich wäre (oder gar in einem Lager verstauben würde) nun von überall eingesehen werden kann.

Für Historiker bringt das allerdings ein Dilemma mit sich. Durch die Digitalisierung der Bestände von Bibliotheken, Archiven und Museen werden auch problematische Inhalte wie etwa NS-Propaganda ohne die übliche Kontextualisierung abrufbar. Bei einer Enquete von Nationalbibliothek und Universität Wien wird von Mittwoch bis Freitag über einen ethischen Umgang mit diesen Daten diskutiert.

"Dann brauche ich mich über irgendein Liederbuch nicht mehr aufregen"

Während man sich zuletzt vor allem auf die technische Seite konzentriert habe, seien die ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Digitalisierung bisher eher vernachlässigt worden, betont Markus Stumpf, Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte an der Uni Wien. Am Fallbeispiel der NS-Zeit soll bei der Tagung nun der Umgang mit problematischen historischen Inhalten diskutiert werden, um daraus in weiterer Folge Lehren für andere Bereiche zu ziehen.

"Wir stehen hier vor der fundamentalen Problemstellung: Was gebe ich an Rassismen und Antisemitismen weiter und was bedeutet das, wenn eine staatlich finanzierte wissenschaftliche Kultureinrichtung wie eine Bibliothek das macht?" Stumpf stellt die Frage, ob diese nicht zu "digitalen Dreckschleudern" würden, wenn sie Hetzschriften wie den "Stürmer" oder das "Schwarze Korps" digitalisieren und anschließend unkommentiert und unkontextualisiert wiederveröffentlichen würden. "Dann brauche ich mich über irgendein Liederbuch nicht mehr aufregen", so Stumpf in Anspielung auf die jüngsten Affären rund um antisemitische Texte in Liederbüchern von Burschenschaften, in denen auch FPÖ-Politiker aktiv sind.

"Fair Data" statt "Open Data"

Bei der Veröffentlichung von NS-Material im Internet falle mit der Bibliothek mit ihren jeweiligen Beschränkungen eine "nicht zu unterschätzende Hürde" weg, betont Stumpf. Die Bibliotheken und Archive müssten als Gatekeeper deshalb genau darauf achten, was sie veröffentlichen und wie. Sonst könnten sie ungewollt zur Verbreitung von NS-Propaganda beitragen, wenn sie das Internet und dessen Suchalgorithmen mit rassistischen, antisemitischen und verhetzenden Inhalten "füttern".

Auch wäre es notwendig, das Material vorab mit entsprechenden Metadaten anzureichern. Anstelle von Open Data – also dem Zugänglichmachen aller Daten – plädiert Stumpf vielmehr für "Fair Data", wo auf schützenswerte Interessen Rücksicht genommen wird.

"Unkommentiert würde ich nichts ins Netz stellen"

In den Archiven wird der ethische Umgang mit digitalisierten NS-Archivalien erst in einiger Zeit zu einem brennenden Thema, wie die Leiterin des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Brigitte Rigele, betont. Immerhin gelten in diesem Bereich Schutzfristen von 110 Jahren nach der Geburt einer betreffenden Person. Aber auch für sie ist klar: "Unkommentiert würde ich nichts ins Netz stellen." Mit sorgfältiger Vorbereitung könne man hingegen vieles abfangen, verweist sie etwa auf kommentierte Ausgaben etwa der Hitler-Tagebücher.

Um eine revisionistische Nutzung von Archivalien zu verhindern, müsse man zudem genau überlegen, welche Daten man digital ins Netz stellt und in welcher Detailtiefe. "Man kann das steuern, indem man sagt: Gewisse Dinge sind nur vor Ort einsehbar." Hier gebe es zusätzliche Hürden, indem Nutzer etwa ihre Namen und die Verwendung der Daten angeben müssen.

Mit dem "Entgleiten der Kontrolle über die eigenen Bestände" hat man im Wiener Stadt- und Landesarchiv bereits Erfahrung. Für Wissenschafter gelten nämlich verkürzte Schutzfristen, und eine Veröffentlichung in deren Verantwortung könne man nicht steuern. Da kann es dann vorkommen, dass historische Bilder im Zuge mehrfacher Wiederverwendung schließlich ohne Quellenangabe und mit falschen Daten im Netz kursieren. "Nutzung bedeutet immer, dass etwas wiederverwendet wird", zeigt Rigele sich pragmatisch. "Missbrauch kann man dabei nicht verhindern". (red, APA, 27. 11. 2019)