In Frankfurt an der Oder wird gelehrt, die Verhältnisse des postindustriellen Kapitalismus zu lieben: Andreas Reckwitz lehrt Menschen Singularität.

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Man muss sich die Vertreter des "Neuen Mittelstandes" als die wahren Superhelden unserer Tage vorstellen. Im Universum der Marvel-Figuren besäßen sie womöglich weder Sitz noch Stimme. Umso gefragter sind sie – ganz real – im Konzert der kulturellen Eliten.

Es ist, unter dem Gesichtspunkt der Originalität, wie verhext: Die Angehörigen solcher Eliten gleichen einander überall aufs Haar. Sie süffeln in den Metropolen der Welt, irgendwo zwischen Nordkap und Feuerland, edle Weine – und stülpen sich goldbesetzte Turnschuhe über die von der Pediküre geschmeidig gehaltenen Füße. Den Wertewandel, der sie zu wertvollen Mitgliedern unserer Erwerbsgesellschaft stempelt, haben sie mit links gestemmt. Andreas Reckwitz, der deutsche Starsoziologe unserer Tage mit Lehrstuhl in Frankfurt/Oder, ist um keinen Begriff verlegen, wenn es um die Umbauarbeiten in den Gesellschaften des globalen Nordens geht.

Seine Essay-Sammlung Das Ende der Illusionen klärt auf über Wesen und Gestalt unserer Übergangsgesellschaft. Ökonomisch haben die Leistungsträger weitgehend umgesattelt. Der Generation der neuen Mittelständler blieb nicht viel anderes übrig: Der "kognitiv-kulturelle" Kapitalismus hat die ehedem so bescheidenen Wohlstandsgenießer aus ihren Ruhezonen verjagt.

Vorbei das Glück des Wagenwaschens

Vorbei die Zeiten, als es höchstes Kleinbürgerglück bedeutete, am Wochenende in der Garageneinfahrt die Mittelklasselimousine sorgfältiger zu waschen als nachher die eigenen Kinder. Mit den Sättigungskrisen der Nachkriegsgesellschaft wurden aus Sicht der Beschäftigten nicht nur Kohle und Stahl obsolet. Die Vertreter der alten Mittelklasse sind heute auf dem Arbeitsmarkt nur noch schwer zu vermitteln. Umso bereitwilliger fliegen solche "Abgehängte" irgendwelchen Populisten in die Arme.

Reckwitz bürdet dem spätmodernen Individuum tausend Lasten auf. "Politik, Ökonomie und Kultur in der Kultur in der Spätnoderne", so sein Untertitel, schießen zusammen. Endgültig passé sind die Zeiten, als Sozialwissenschafter sich den Feldern ihres Interesses mit normativen Vorgaben im Marschgepäck näherten. Die Welt muss anders werden, so viel ist klar. Nur muss sie sich deshalb nicht großartig ändern.

Darin liegt tendenziell das Elend einer Soziologie, die dem Gegenstand ihrer Untersuchungen mit viel Sympathie für den Status quo begegnet. Lauscht man Reckwitz‘ betörender Begriffsmusik, hört man sehr unliebsam das Einverständnis mit den Verhältnissen dazwischen tönen. Natürlich erzwingt der Postindustrialismus Mentalitätswechsel. Wer früher Handgriffe am Fließband verrichtete, soll heute "kognitive Arbeit" leisten. Gefragt ist nicht etwa Gewissenhaftigkeit. Wer der glücklichen neuen Mittelklasse angehören will, um in den Genuss ihrer üppigen Privilegien zu kommen, der sollte kreativ übersprudeln.

Genuss kultureller Güter

Zuletzt ist es der Konsum, der über Wohl und Wehe einer Mittelstandsexistenz entscheidet. Unermüdlich preist Reckwitz, in loser Anlehnung an Pierre Bourdieu, den Genuss kultureller Güter. Kulturell sind Güter dann, wenn der Benutzer sie für sich unaufhörlich valorisiert, das heißt: Er schreibt ihnen einen Wert zu, aufgrund dessen er sich zum schlechthin unvergleichlichen Individuum erhoben fühlt.

Nur dann ist der glückliche Mittelstandsbürger auch wirklich bei sich selbst angekommen. Er gilt als "singularisiert". Selbstverwirklichung soll mit dem Ideal der Authentizität verknüpft sein. Vergessen die Einsicht, dass es keine andere Vereinzelung gibt, als diejenige, die einem von den herrschenden Verhältnissen aufgenötigt wird. Das Einsam-Sein ist nur der allgemeinste Ausdruck eines untergründig wirksamen Zwangs. Darüber tröstet auch nicht der Tragekomfort von Sneakers mit Gold-Ösen hinweg. (Ronald Pohl, 28.11.2019)