Für einen Moment vermeinte man im Gesicht von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen neben der Freude so etwas wie Erstaunen zu erkennen, als EU-Parlamentspräsident David Sassoli in Straßburg das Ergebnis der Abstimmung über ihr gesamtes Team verkündete. Nach vielen Deals mit den drei größten Fraktionen – Christ- und Sozialdemokraten, Liberale – war von vornherein zwar klar, dass ihr Kollegium eine nötige absolute Mehrheit finden wird: also mindestens 376 Stimmen. Aber das Votum überraschte dann doch alle: 461 Ja-Stimmen bei lediglich 157 Nein-Stimmen hatten selbst größte Optimisten nicht erwartet. So viel Vertrauensvorschuss hat noch keine EU-Kommission im ersten Anlauf bekommen: nicht Vorgänger Jean-Claude Juncker 2014, nicht José Manuel Barroso 2004.

Das ist bedeutend, weil eine Kommission ohne Zustimmung des Parlaments fast gar nichts mehr machen, keine ihrer Gesetzesinitiativen umsetzen kann. Dieses hat seit 2009 weit gehende Mitentscheidungsrechte.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
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Und die Feinanalyse zeigt: Von der Leyen und ihr Team, dem erfreulicherweise so viele weibliche Kommissare angehören wie nie zuvor, finden sogar extrabreite Chancen für Kompromisse vor. Neben Liberalen, Christ- und Sozialdemokraten stimmte auch die Mehrheit der von der polnischen PiS dominierten Fraktion der Konservativen für sie. Die Grünen enthielten sich: Fraktionschefin Ska Keller betonte aber, dass man diese "Enthaltung statt Ablehnung" als Angebot der Kooperation verstehen solle.

Holpriger Start

In Kontraposition stellten sich nur die extreme rechte Fraktion (ID) mit der FPÖ, die Linksfraktion und die britischen EU-Skeptiker, die mit dem Brexit im Jänner ausscheiden dürften. Die größten Schwierigkeiten und Widerstände sind von den Regierungen der Nationalstaaten zu erwarten.

Die neue Präsidentin kann also zufrieden sein. Sie scheint das Glück der Tüchtigen zu haben; wenn man bedenkt, wie holprig der Start war, die Kämpfe im Nominierungsprozess der Kandidaten, wie umstritten sie selber im Juli war. Bei ihrer Antrittsrede wurde sie oft von starkem Applaus unterbrochen. Die dreisprachige Deutsche hat sich das Vertrauen ihrer Kritiker hart erarbeitet. Auffällig: Ihre Fähigkeit, Gegensätze zu überbrücken, es vielen recht zu machen. Und der richtige Tonfall, der transnational wirkt, etwa als sie den verstorbenen tschechischen Präsidenten und Freiheitskämpfer Václav Havel zitierte: Man müsse handeln, weil etwas richtig sei – nicht nur, weil es Erfolg bringe. Der Mensch, nicht der Markt müsse im Zentrum stehen. "Kühnes" Handeln sei gefragt – nicht nur beim Klimaschutz.

Solchen Optimismus braucht das zerrissene Europa dringend. Die Kommission muss einen Blitzstart hinlegen, bis Februar drei extrem große Programme, neben einigen anderen, auf den Weg bringen, wenn die Briten in zwei Wochen Boris Johnson als Premier wohl bestätigen und dieser dann den Brexit in Gang setzt.

Von der Leyen muss den EU-Austritt Großbritanniens konkret umsetzen, damit er am 31. Jänner 2020 funktioniert. Daraus ergeben sich massive Folgen für den langfristigen EU-Budgetrahmen ab 2021. Das wiederum bedingt eine umfassende interne Reform der EU-27. Ohne die Briten muss sich die EU in der Welt neu aufstellen; muss besser funktionieren. Auf von der Leyens Truppe wartet ein Monsterprogramm. Da tut Vertrauen gut. (Thomas Mayer, 27.11.2019)