Viele Briten werfen Labour-Chef Jeremy Corbyn vor, ein Antisemit zu sein. Im Wahlkampf kocht das Thema nun erneut hoch.

Bisher stand der britische Wahlkampf im Zeichen der Frage, ob die Brexit-Entscheidung alte Parteiloyalitäten übertrumpft. Vierzehn Tage vor dem Urnengang hat nun ein weiterer, auf der Insel seit Jahrzehnten unbekannter Faktor Einzug gehalten: Religiöse Führer ergreifen das Wort und raten der Bevölkerung von der Wahl einer bestimmten Partei ab. Während Oberrabbiner Ephraim Mirvis den Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn wegen ungeklärter Antisemitismusvorwürfe als Premierminister für ungeeignet hält, verurteilt der Muslimenrat die angeblich schwelende Islamophobie in der konservativen Regierungspartei.

"Get Brexit done", den EU-Austritt durchziehen – kein öffentlicher Auftritt von Premier Boris Johnson vergeht, ohne dass der Tory-Chef diesen Slogan ein halbes Dutzend Mal wiederholt. Sein Weihnachtsgeschenk an die Nation werde darin bestehen, den bereits ausgehandelten Austrittsvertrag noch vor den Feiertagen im Parlament einzubringen.

Brexit dominiert

"Stop Brexit" lautet hingegen das gebetsmühlenartig wiederholte Mantra der liberaldemokratischen Parteichefin Joanne Swinson. In mehr oder weniger eleganten Variationen stellen auch die anderen kleineren Oppositionskräfte, von der schottischen Nationalpartei SNP über die Grünen und die walisische Plaid Cymru, den EU-Austritt ins Zentrum ihrer Kampagne: Mit einem zweiten Referendum soll die Entscheidung vom Juni 2016 rückgängig gemacht werden.

Hingegen versuchen die Sozialdemokraten die öffentliche Debatte auf jene Felder zu ziehen, auf denen sie sich stark fühlen: öffentliche Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitswesen. Den eloquenten und telegenen Brexit-Sprecher Keir Starmer hingegen hält die Parteispitze von zentralen Veranstaltungen fern – mit der ausdrücklichen Begründung, es handle sich um "keine Brexit-Wahl". Stattdessen tingelt der Londoner Abgeordnete übers Land und stellt dort fest, was auch viele andere Wahlkämpfer berichten: Zum einen wollen die Menschen natürlich doch wissen, wie sich die wichtigste Oppositionspartei zum EU-Austritt positioniert, zum anderen äußern viele Bedenken gegen den Labour-Chef als Premierminister.

"Neues Gift"

Bestätigung haben die Zweifler nun vom Oberrabbiner erhalten. In einem Artikel für die konservative Times erklärte Ephraim Mirvis, Vorstand der der orthodoxen Juden auf der Insel, Corbyn für verantwortlich dafür, dass sich "ein neues Gift" bei Labour verbreite, nämlich der Antisemitismus. Die Beteuerungen der Partei, man sei jedem einzelnen Fall auf den Grund gegangen, tut Mirvis als "lügenhafte Fiktion" ab: Zählungen der jüdischen Labourbewegung zufolge seien mindestens 130 Fälle ungeklärt. Am Wahltag, dem 12. Dezember, gehe es um "die Seele der Nation", mahnt der Geistliche – und lässt dabei keinen Zweifel daran, dass nicht Labour wählen soll, wem am Seelenheil des Landes gelegen ist.

Wirbel verursachte die Wortmeldung nicht nur dadurch, dass die überwiegend Labour-kritische Londoner Presse den Appell des Oberrabbiners auf ihren Titelseiten platzierte. Mirvis greift ein Problem auf, das praktisch seit Corbyns Amtsantritt vor mehr als vier Jahren die Öffentlichkeit beschäftigt. Damals expandierte die Partei gewaltig, Labour kann sich mit mehr als einer halben Million zahlender Mitglieder stolz "die größte Partei Westeuropas" nennen. Beinahe zeitgleich begannen Beschwerden jüdischer Abgeordneter und Organisationen über eine Zunahme antisemitischer Vorfälle, überwiegend auf sozialen Netzwerken, aber auch in Parteiversammlungen. Ob sich die Vorwürfe stärker gegen neue oder gegen langjährige Mitglieder richten, bleibt unklar.

Unzulängliche Vorgehensweise

Seit Mai prüft die unabhängige Menschenrechtskommission EHRC die Frage, ob Labour "gesetzwidrig Menschen diskriminiert, belästigt oder bestraft hat, weil sie Juden sind". Die Behörde gibt es seit zwölf Jahren; in diesem Zeitraum wurde nur eine andere Partei, nämlich die neofaschistische British National Party, einer vergleichbaren Prüfung unterzogen, worauf die Konservativen stets genüsslich hinweisen. Ein Abschlussbericht wird für kommendes Jahr erwartet.

Mehrere Unterhaus-Abgeordnete sowie drei Angehörige des Oberhauses haben die Fraktion mit Verweis auf die unzulängliche Vorgehensweise der Parteispitze gegen Antisemiten in den eigenen Reihen verlassen. Von einem BBC-Interviewer ins Kreuzverhör genommen lehnte Corbyn eine Entschuldigung für Versäumnisse seiner Partei ab. Er wolle mit aller Macht gegen Rassismus und Intoleranz gegen alle Minderheiten kämpfen, sagte er. Dazu gehöre auch die Diskriminierung von Muslimen und anderen ethnischen und religiösen Gruppen.

Oberrabbiner Mirvis erhält Unterstützung vom Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche, Erzbischof Justin Welby, dessen eigener Appell für Mäßigung im Wahlkampf vergangene Woche ungehört verhallte. Die Labour-Party müsse sich ändern, orakelte der Geistliche; womöglich stecke sie in einem ähnlichen Dilemma wie die Kirche von England, die in den vergangenen Jahren immer wieder schlecht aussah, wenn es um Vorwürfe gegen Sexualverbrecher im Talar ging.

Vorwürfe an Johnson

Der Muslimenrat des Landes wies hingegen auf ähnliche Versäumnisse der konservativen Regierungspartei hin. Deren Chef Boris Johnson und seine Leute würden Vorwürfe wegen Islamophobie "leugnen, zurückweisen und verschleiern". Tatsächlich ist eine längst angekündigte parteiinterne Untersuchung wegen rassistischer Meinungsäußerungen von Funktionären und Kandidaten bis heute nicht in Gang gekommen.

Das könnte am Parteichef höchstselbst liegen: Johnson musste sich in einer jüngsten TV-Debatte bittere Vorwürfe dafür anhören, dass er in Zeitungskolumnen muslimische Frauen mit Gesichtsschleier als "Briefkastenschlitze" und afrikanische Kinder mit einem rassistischen Begriff verunglimpft hatte.

Eine Umfrage des Meinungsfroschunginsituts YouGov im Auftrag der Zeitung "Times" sagt Johnson dennoch einen Wahlerfolg voraus. Nach aktuellem Stand soll Johnsons mit 359 Sitzen von 650 rechnen können, eine Verbesserung um 42 Sitze im Vergleich zur Wahl 2017. Labour würde der Umfrage zu Folge nur auf 211 Sitze nach 262 Sitzen vor zwei Jahren kommen, die pro-europäischen Liberal-Demokraten auf lediglich 13 Sitze. (27.11.2019)