Niemand würde Häuser ohne Toiletten bauen. Vergleichbares geschieht aber bei Atomkraftwerken (AKWs). Diese verfügen zwar über Lösungen für Endprodukte des menschlichen Stoffwechsels – das Schicksal des Atommülls, eines weit gravierenderen Endprodukts, ist aber weiter ungeklärt. Das Problem wird aufgeschoben und durch mangelndes Wissen (oder einer gewissen Scheißdraufmentalität, Pardon!) nicht nur der nächsten, sondern den nächsten hundert Generationen weitervererbt.

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Anders lässt sich nicht erklären, wieso Ländern wie USA, Russland oder Großbritannien erst 1994 verboten wurde, den Atommüll einfach im Meeresboden zu versenken.

Tatsächlich ernsthaft diskutiert wurden Alternativen, bei denen Atommüll in die Erdumlaufbahn, auf den Mond oder direkt in die Sonne geschossen werden sollte. Einige Forscher wollten ihn unter den ewigen Eisschichten vergraben – eine Idee, die sich angesichts der Klimakrise und schmelzender Polkappen als nur mäßig brillant entpuppte. In Grönland etwa treten bereits erste Atommüllrelikte der USA aus dem Kalten Krieg unter den dünner werdenden Eisschichten zutage. Bisweilen begnügt man sich aber immer noch mit Zwischenlagerungen.

Der schematische Aufbau der einzigen nuklearen Endlagerstätte der Welt – sofern sie 2023 tatsächlich in Betrieb genommen wird.
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Ein Endlager für Jahrtausende

Es spricht Bände, dass erst 2023 – knapp 70 Jahre nach Eröffnung des ersten kommerziell betriebenen Reaktors – das weltweit erste nukleare Endlager für hoch radioaktive Abfälle auf der finnischen Insel Olkiluoto eröffnet werden soll. In bis zu 500 Meter Tiefe sollen dort rund 6.500 Tonnen des toxischsten und gefährlichsten Mülls in Kupfer verpackt und unwiederbringlich hinter Gesteinsschichten eingesperrt werden.

Zum Vergleich: Die Welt produziert jedes Jahr rund 12.000 Tonnen des Atommülls dieser Kategorie. Es bräuchte also viele Endlager dieser Größe oder deutlich größere – oder Alternativen:

Auszug aus dem UN-Vorschlag für Warnschilder am Eingang von nuklearen Endlagern.
Foto: Der STANDARD / Michaela Köck

Eine Idee erhält nun vor allem im Zuge der Klimakrise Rückenwind: Die Wiederverwertung des bestehenden Atommülls klingt nämlich so einfach wie genial. Zu 96 Prozent ungenutzte Altlast – vor allem Uran und Plutonium – soll in neuartigen Atomreaktoren der vierten Generation durch schnelle Neutronen gespalten werden, Unmengen an Energie freisetzen und das Problem der Endlager quasi gleich mit lösen.

Zwölf verschiedene Reaktorentwürfe existieren derzeit – massentauglich dürften die meisten Typen aber frühestens 2030 werden. Ein russischer Reaktor scheitert etwa noch an den hohen Kosten. Positiver Nebeneffekt eines dieser Modelle – neben dem günstigen Energielieferanten – wäre die Umwandlung der langlebigen Abfallstoffe in kurzlebige Spaltprodukte. Deren Halbwertzeiten wären derart kurz, dass sie nur mehr gut 300 Jahre gelagert werden müssten. Durch die tausendfache Zeitersparnis wäre eine Endlagerung, wie wir sie heute verstehen, also nicht nötig, rechnet der Atomkraftbefürworter Rainer Klute vom gemeinnützigen Verein Nuklearia im STANDARD-Gespräch vor.

Negativer Nebeneffekt: Bei manchen dieser neuartigen Reaktortypen entsteht waffenfähiges Plutonium als Zwischenprodukt. Dies müsste vor feindseligen Gruppen und Staaten besonders geschützt werden. Bei der Umweltorganisation Greenpeace stößt das auf große Kritik.

Foto: Der STANDARD / Michaela Köck

Dennoch plädiert Klute dafür, den Atomskeptizismus abzulegen. Oberstes Ziel einer ehrlichen Klimapolitik müsse eine CO2-arme Politik sein. Atomenergie sei nicht nur günstig, sie setze pro erzeugter Megawattstunde Strom nur so wenig CO2 frei wie Windkraft und viel weniger als die übrigen Erneuerbaren. Klute kann sich einen künftigen Energiemix vorstellen, bei dem Kernenergie die nötige Absicherung liefert und Erneuerbare den Restbedarf decken.

Jan Haverkamp, Atomexperte bei Greenpeace, schenkt der Rechnung der Generation-IV-Befürworter wenig Glauben. "Zu teuer und zu spät, um der Klimakrise Herr zu werden", resümiert er. Es handle sich um eine unnötige Ablenkung vom eigentlichen Ziel – einer Energiewende in Richtung hundert Prozent Erneuerbare, so Haverkamp. Ähnliche Argumente, etwa teure Subventionen für erneuerbare Energie, bringt freilich auch die Gegenseite ein.

Französisches Laserkarate

Nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima scheint klar, dass Europa nicht zum Treiber der neuen AKW-Generation avancieren wird. Chinesen, Russen und Inder forschen und bauen indes weiter neue Reaktoren. Zudem gibt es liquide und einflussreiche Fürsprecher wie Bill Gates, der selbst große Summen in seine Firma Terrapower investiert. Er behauptet, mit dem global gelagerten Atommüll 80 Prozent der Weltbevölkerung über ein Jahrtausend lang mit Energie versorgen zu können – auf dem gegenwärtigen Verbrauchsniveau eines durchschnittlichen Amerikaners. Ein Prototyp-AKW, das von 2018 bis 2025 in Fujian, China, hätte gebaut werden sollen, fiel allerdings Donald Trumps Anti-China-Feldzug zum Opfer.

China, Indien und Russland bauen derzeit die meisten neuen Atomreaktoren.
Foto: Der STANDARD / Michaela Köck

Neue Hoffnung, einer Endlagerung des hoch radioaktiven Atommülls doch noch zu entkommen, nährte kürzlich der Physiknobelpreisträger von 2018. Die Werke des Franzosen Gérard Marou und seiner Forschungspartnerin Donna Strickland führten bisher bereits zu den stärksten gepulsten Lasern unserer Zeit. Nun träumt Marou davon, Atomkerne mit superstarken Laserpulsen zu beschießen, sodass sie in kürzestmöglicher Zeit stärkstmögliche Kraft auf den Atomkern ausüben und Protonen herausschlagen. Im besten Falle könnten so radioaktive Isotope in stabile, nicht radioaktive umgewandelt werden. Die kommerzielle Anwendung aber scheint noch Jahrzehnte entfernt und die Stolpersteine riesig. Dennoch fordern renommierte Physiker wie der ehemalige Atomkraftwerksplaner und nunmehrige Atomkraftkritiker Bernard Laponche, dieser Methode eine Chance zu geben und den Atommüll vorerst nicht auf ewig im Gestein zu versperren.

Bizarrerweise könnte dabei ausgerechnet die Gasindustrie helfen. L-förmige Frackingbohrlöcher haben den Vorteil, dass man Atommüllfässer in Tiefen von mehr als einem Kilometer auf einige Hundert Meter entlang aufreihen und sichern könnte. In erfolgreichen Tests konnten für die Endlagerung gedachte Fässer per Roboter wieder an die Erdoberfläche zurückgeholt werden. Bis eine bessere Lösung gefunden ist, könnte so der giftigste Müll vorübergehend eingelagert werden. (Fabian Sommavilla, 29.11.2019)