Gemeinsam mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy befeuerte Felwine Sarr die Restitutionsdebatte: Sie ist nur ein Baustein in seiner großen Utopie für Afrika.

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Als vieldiskutierter Intellektueller Afrikas hat Felwine Sarr im vergangenen Jahr auch die europäische Debatte geprägt. 2018 veröffentlichte er gemeinsam mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Auftrag Frankreichs einen Bericht über die Rückgabe kolonial belasteter Kulturgüter an Afrika. In seiner Schrift Afrotopia (2019 bei Matthes & Seitz auf Deutsch erschienen, hier lesen Sie die STANDARD-Rezension) geht Sarr einen Schritt weiter: Er fordert eine kulturelle Revolution für Afrika, woraus eine gesündere Wirtschaft erwachsen soll. Auf Einladung der Erste-Stiftung stellte Sarr seine Thesen nun in Wien vor.

STANDARD: Warum sollte man bei der Kultur beginnen, wenn man die Ökonomie verändern will?

Sarr: Wirtschaft ist immer eingebettet in Kultur, Psychologie, sozialen Austausch und Beziehungen. Seit seiner Unabhängigkeit befindet sich Afrika unter einem Regime der Nachahmung, in der ausschließlich westliche Herangehensweisen zählen. Für einen tiefen Wandel der afrikanischen Ökonomie wäre es notwendig, dass sich Afrika seiner kulturellen Wurzeln besinnt: mehr Solidarität, mehr Gemeinschaftsdenken.

STANDARD: Man könnte einwenden, der Fokus auf Kultur ist die Sicht eines intellektuellen Bohémiens. Die Realität der Menschen ist oft geprägt von Armut, Krieg und Hunger. Was sagen Sie denen?

Sarr: Ich habe meine Ideen in afrikanischen Ländern vorgestellt, wo in der Tat das Denken vorherrscht, die Kultur sei etwas Nachrangiges. Aber was ich fordere, ist in den Gesellschaften bereits angelegt: Ich nenne es "informelle Ökonomie", regional geprägte, gemeinschaftlichere Strukturen. Die müssen wir stärken. Aber leider wird alles, was von westlichen Produktionsvorstellungen abweicht, ignoriert. Außerdem müssen wir aufhören, Afrika ausschließlich durch die Linse von Krieg und Armut zu betrachten. Das verdeckt den Blick auf die Kreativität, die es gibt.

STANDARD: Ein mögliches erstes Puzzleteil in diesem Kulturwandel sehen Sie in der Rückforderung afrikanischer Objekte aus den europäischen Völkerkundemuseen. Wie nehmen Sie die Debatte wahr?

Sarr: Es ist zwar in Hinsicht auf reale Rückgaben noch relativ wenig passiert, das ist schade. Aber ich habe das Gefühl, dass diese Debatte eine neue Chance eröffnet hat, uns mit Kolonialgeschichte, mit geraubter Erinnerung und Kreativität auseinanderzusetzen. Mein Wunsch ist, dass wir zu der Frage kommen, wie wir die Beziehungen zwischen Afrika und Europa ethisch erneuern können. Wir müssen weg von der asymmetrischen Situation, in der wir uns befinden.

STANDARD: Wollen Sie wirklich, dass alle Objekte zurückgegeben werden, wie manche behaupten?

Sarr: Nein, und es wundert mich, dass es manchmal so aufgefasst wurde, weil Bénédicte Savoy und ich in unserem Bericht klare Kriterien für Rückgaben vorgeschlagen haben. Es geht zuvorderst um gewaltsam angehäufte Objekte aus militärischen Expeditionen, etwa 1892 durch die französische, 1897 durch die britische Kolonialmacht. Aber es geht auch um sogenannte wissenschaftliche Expeditionen, wo aus Akten teils klar hervorgeht, dass Objekte ethisch fragwürdig entnommen wurden.

STANDARD: Muss man in Europa Angst vor leeren Vitrinen haben?

Sarr: Aber nein! Es geht zunächst um die Restitution einiger weniger, aber symbolisch sehr aufgeladener Objekte, die Staaten wie Nigeria, Senegal, Mali oder Benin seit langem von Frankreich zurückfordernund die haben auch die museale Infrastruktur dafür. Dieser erste Akt könnte dann womöglich den Boden für größere Rückgaben bereiten. Savoy und ich haben mit den Verantwortlichen in all den Ländern gesprochen und es wurde deutlich, dass es nicht um Masse, sondern einige wenige Objekte geht, die natürlich auch an Europas Museen zurückverliehen werden könnten. Und die Afrikaner wollen ja selbst, dass weiter Stücke in Europa zu sehen sind.

STANDARD: Läuft die Debatte in Afrika anders ab?

Sarr: Wenn ich Workshops in afrikanischen Ländern mache, fällt mir auf, dass andere Aspekte des Themas wichtig sind. In Europa dreht sich alles um Fragen des Besitzes, des Rechts oder der Frage, ob die Objekte ohnehin universellen Status hätten, also der "Weltgemeinschaft" gehörten und sich die Rückgabefrage daher nicht stelle. In Afrika hingegen fragt man viel nach dem immateriellen Wert der Objekte, die für Afrikaner traditionell oft gar keine Objekte, sondern Subjekte waren. Man fragt sich, ob und wie man diese Gegenstände in die Gemeinschaft resozialisieren könnte oder ob sie durch den langen Aufenthalt in den Museen nicht sogar ihren "Spirit" verloren haben. Auch die Ansicht, wonach diese Objekte einzig ins Museum gehören und nirgendwo anders mehr eingesetzt werden können, ist eine westliche und von daher eigentlich hinterfragenswert.

STANDARD: Ethnografische Museen, wie auch das in der Debatte oft kritisierte Museum Quai Branly in Paris, ziehen ein weit diverseres Publikum an als etwa Kunstmuseen. Sind diese Museen nicht wichtig für Europäer mit afrikanischem Migrationshintergrund?

Sarr: Absolut, ja. Aber was ist mit den Menschen in Afrika, die kein Visum haben, um sich in Europas Museen mit ihrem kulturellen Erbe befassen zu können? In ihren eigenen Ländern gibt es kaum Objekte, 80 bis 90 Prozent befinden sich in Europa. 2005 verfasste die EU ein Statement, in dem man festhielt, dass Europas Jugend ein Recht auf ihr kulturelles Erbe hat. Sollte man das nicht auch Afrikas Jugend zugestehen?

STANDARD: Museen wie das Quai Branly präsentieren die Objekte zwar im prächtigen Rahmen, es fehlt aber jeder Hinweis auf koloniale Verstrickungen. Im neuen Wiener Weltmuseum hingegen gibt es einen eigenen Saal zum Thema und Zusatzinfos neben den Objekten, auch Statements der jeweiligen Herkunftsgesellschaften. Ein gangbarer Weg für Sie?

Sarr: Im Quai Branly wird so getan, als wären die Objekte schon immer in Frankreich gewesen. Ich begrüße es, wenn man es hier anders macht, ein interessanter Weg. Ähnlich versuchen es auch nordamerikanische Museen mit der Einbeziehung der First Nations.

STANDARD: Ist das Thema Kolonialismus in den Schulen zu wenig präsent? Sollten ethnografische Museen dieses Defizit füllen?

Sarr: Ja, unbedingt. Diese Objekte können ein guter Anlass sein, um über Kolonialismus zu sprechen. Aber wir sollten damit auch in die Zukunft blicken. Genauso wie diese Objekte einst Picasso inspirierten, könnten sie heute afrikanische Kreative, Designer, Künstler und Unternehmer beflügeln.

STANDARD: Inspirieren ließ sich mitunter Hollywood: Im Marvel-Film "Black Panther" wird die Restitutionsdebatte aufgegriffen. Wie blicken Afrikaner auf Hollywoods erstarktes "Black Cinema"?

Sarr: Man kann natürlich die Mechanismen der Kulturindustrie kritisieren, aber im Fall Black Panther überwiegt für mich das Positive: Die Popkultur verbreitet das Thema abseits der Intellektuellenzirkel. Und dieser Film ist einer der wenigen, in dem Afrika als starker, mächtiger Ort gezeigt wird. Ich sah junge Leute aus dem Kino gehen, die plötzlich stolz auf Afrika waren, weil sie einmal nicht als Verlierer dargestellt wurden. Das ist enorm wichtig. Afrika leidet an einem enormen Image-Defizit, weil es immer nur mit Problemen assoziiert wird.

STANDARD: Wie soll es in der Debatte um die Restitutionen nun weitergehen?

Sarr: Nachdem es in Europa nun Thema geworden ist, muss die afrikanische Zivilgesellschaft stärker tätig werden. Ich habe auch vor der Afrikanischen Union gesprochen, die das Thema beim nächsten Gipfel mit der EU auf die Tagesordnung setzen will. Europas Politiker werden sich aber nie von ihrer asymmetrischen Hegemonie gegenüber Afrika verabschieden, wenn es keinen Druck aus der Zivilgesellschaft gibt.

STANDARD: In "Afrotopia" zeigen Sie sich dennoch optimistisch.

Sarr: Ja, weil ich die Langzeitentwicklung sehe und die Situation Afrikas sich im Vergleich zu den 1980er-Jahren stark verbessert hat. Was wir jetzt brauchen, ist mehr Autonomie.

(INTERVIEW: Stefan Weiss, 28.11.2019)