Nein, die Nato ist nicht wirklich "hirntot". Emmanuel Macron schwächte seine kürzlich getätigte Aussage am Donnerstag leicht ab: Nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Paris erklärte er, diese drastische Formulierung sei als "nützlicher Weckruf" gemeint gewesen. Inhaltlich aber blieb der französische Präsident dabei, dass die Europäer ihr Schicksal gegenüber den zunehmend dominanten und isolationistischen Amerikanern selbst in die Hand nehmen müssten.

Allerdings sagte er das nicht mehr so energisch wie kürzlich im Interview mit The Economist. Schließlich steht nächste Woche ein Jubiläumstreffen des west lichen Verteidigungsbündnisses an; und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte erst am Vortag betont, dass die Europäer auf den Schutzschirm der USA "angewiesen" seien. Auch Stoltenberg erklärte am Donnerstag, Europa könne sich ohne die Amerikaner "nicht selbst verteidigen".

Macron schert aus

Doch Macron lieferte bei der gemeinsamen Pressekonferenz gleich den Beleg, dass er zwischen der europäischen und der amerikanischen Position klar trennt, und forderte einen europäischen Platz bei allfälligen russisch -amerikanischen Verhandlungen über den Abbau landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen. Die Amerikaner hatten diesen INF-Vertrag im August aufgekündigt, weil ihn Moskau ihrer Meinung nach laufend verletzt. Die westeuropäischen Nato-Partner hatten diese US-Position unisono unterstützt und gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eine Einheitsfront gebildet.

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Emmanuel Macron (rechts) versuchte beim Treffen mit Jens Stoltenberg, die Wogen etwas zu glätten.
Foto: Reuters

Macron schert nun aus. Im Unterschied zu den Nato-Partnern ist er bereit, mit Putin über seinen Vorschlag eines Atomwaffen moratoriums zu reden. Gegenüber Stoltenberg nannte er diese – von der Nato klare abgelehnte – Idee eine "Diskussionsgrundlage".

Aussprache mit Putin

Macron bestätigte seine Annäherung an Putin, als er fragte: "Ist Russland unser Feind? Ich glaube es nicht." Sich offenbar bewusst, dass er damit die europäische Einheit auf die Probe stellt, fügte der französische Staatschef an, dass Frankreich im Fall einer Bedrohung der osteuropäischen Staaten "standfest" an deren Seite stehen würde. In Moskau bestätigte ein Kreml-Sprecher indes, dass Macron Putin seine Gesprächsbereitschaft mitgeteilt habe; die beiden Präsidenten hätten vor, sich am 9. Dezember in Paris anlässlich des Ukraine-Gipfels auszusprechen.

Dass Macron im Westverbund eigene Wege geht, hat einen doppelten Grund. Seine Forderung nach einer europäischen Verteidigung und Armee ist eine direkte Antwort auf die Vorhaltungen von US-Präsident Donald Trump, die Europäer täten – auch finanziell – zu wenig für die Nato. Äußerst pikiert antwortete Macron mit Hinweis auf den französischen Truppeneinsatz gegen die Jihadisten in Mali, wo diese Woche 13 französische Soldaten umgekommen sind: "Wenn Sie die militärischen Anstrengungen Frankreichs im Sahel sehen wollen, können Sie ja zu den Beerdigungszeremonien kommen." Der französische Ärger rührt auch daher, dass Trump seine Truppen ohne jede Absprache aus Syrien abgezogen hatte und auch die Franzosen im Stich ließ.

Erbe von de Gaulle

Macrons Alleingang erklärt sich allerdings auch aus der Geschichte. Charles de Gaulle hatte sich 1966 ganz aus dem Militärkommando der westlichen Allianz zurückgezogen. Statt an der Seite der USA situierte er sein Land im Kalten Krieg "zwischen den Blöcken", wie er sagte. 2009 kehrte Nicolas Sarkozy zwar wieder in das Nato-Kommando zurück. Paris weigert sich aber weiter, ein Kommando der vier neuen Baltikum-Bataillone zu übernehmen.

Das zunehmende Desinteresse Washingtons an Europa sorgt an der Seine jedenfalls für bedeutend weniger Beunruhigung als in Berlin. Wie schon beim Brexit scheint man in Paris gar nicht so unglücklich über die wachsende Distanz der EU zu den Angelsachsen zu sein. Denn beides – Brexit wie Nato-Krise – stärke Frankreichs Stellung in Europa. Ob zusammen mit Deutschland oder allein: Macron will die Geschicke Europas in die Hand nehmen – gerade auch bei der Verteidigung. (Stefan Brändle aus Paris, 28.11.2018)