Josef Müller-Brockmann, "Gestaltungshandbuch für die Schweizerischen Bundesbahnen". Hrsg.: Museum für Gestaltung Zürich, Shizuko Yoshikawa, Josef Müller-Brockmann Stiftung. 45,– Euro / 222 S. Lars Müller Publishers, 2019
Cover: Verlag

Ja, eh. Schon urgeil, wenn unterm Weihnachtsbaum ein Gutschein für ein gemeinsames Rumpy-pumpy-Wochenende in der Wellness-mit-Anfassen-Therme aus dem Umschlag fällt oder ein Unterleibsbeglückungswerkzeug raschelnd aus dem goldenen Papierl geborgen wird. Aber Hand aufs Herz, nach dem dritten Weihnachten bewegt sich das von der Sexyness her doch schon deutlich Richtung Stricksocken.

Ganz anders und außerdem richtig geil: Das Gestaltungshandbuch für die Schweizerischen Bundesbahnen im Faksimilenachdruck des Originals. Die gute Schweiz! Ein Land, das nicht nur aussieht wie eine Modelleisenbahnlandschaft, sondern auch genauso präzise funktioniert.

Und: Die Bahnen und Bahnhöfe der SBB sehen zudem gut aus, denn sie entsprechen alle dem Gestaltungshandbuch von 1980. Wenn Sie jetzt sagen "Das ist mir aber noch nie aufgefallen", beweist das nur den Erfolg des grafischen Konzepts.

Leitlinie von 1976

"Im Gegensatz zu rein profitorientierten Unternehmen braucht ein Staatsunternehmen eine zurückhaltende visuelle Profilierung", gab SBB-Chefarchitekt Uli Huber 1976 die Leitlinie vor. In der sachlichen Grafik und serifenlosen Typografie des Schweizer Grafikers Josef Müller-Brockmann (1914–1996) fand sich die perfekte Umsetzung dieser Corporate Identity.

Sein Handbuch umfasst neben einem eleganten Logo und Regeln für Wegweiser, Bahnschilder und Gepäcksrollwagenbeschriftung auch 46 neue Piktogramme. Wie eng die Bahn mit dem Schweizer Selbstverständnis verbunden ist, zeigt auch, dass die Covergestaltung des Kursbuches per Künstlerwettbewerbs vergeben wurde.

Die Fülle präziser Festlegungen mag heutigen Neoliberalen als "Regulierungswahn" gelten, doch sie beweist, wie wichtig das qualitätsvolle Design eines Alltags ist, mit Räumen und Verkehrsmitteln, die pro Tag hunderttausendmal benutzt werden.

Vorbilder für Müller-Brockmann waren der "Spoorstijl" in den Niederlanden und das 1965 veröffentlichte Corporate-Identity-Manual von British Rail. Meisterwerke der Gestaltung, wie sie nur ein gut organisierter Wohlfahrtsstaat mit pflichtbewussten und kreativen Beamten hinbekommt.

Man liest es mit trauriger Nostalgie, denn British Rail gibt es nicht mehr, die Privatisierung hat sein elegantes Corporate Design durch ästhetische Komplettdesaster ersetzt. Manche Sachen darf man eben nicht dem freien Markt überlassen.

Gott sei Dank gibt es noch die gute Schweiz! Zwar wurde hier auch, wie das Buch kritisch anmerkt, dort und da Schindluder mit der Helvetica-Typografie getrieben. Doch die Schönheit einer wohldurchdachten Ordnung und die wohlige Vertrautheit des Wiedererkennbaren gelten bis heute.

Man möchte nach der Lektüre sofort in die Schweiz reisen, um dort Bahnhofsbeschilderungen unter die Lupe zu nehmen. Bis dahin darf man sich beim Festtagskäsefondue mit der spröden Schönheit dieses Buches vergnügen. (Maik Novotny, 5.12.2019)