Annie Ernaux, "Eine Frau". Übersetzt von Sonja Finck. 18,– Euro / 88 Seiten. Suhrkamp, 2019
Cover: Verlag

Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter beginnt Annie Ernaux zu schreiben: "Meine Mutter ist gestorben, am Montag, den 7. April ..." Schwierig nennt die große französische Schriftstellerin das Unterfangen, über ihre Mutter zu schreiben, weil: "Für mich hat meine Mutter keine Geschichte. Sie war schon immer da."

Mit Eine Frau, einem Buch, das im Original bereits 1987 und jetzt erst auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist, ist Ernaux aber etwas Großartiges gelungen. Mit unglaublich eindringlicher Klarheit folgt dieser schmale Band einer inneren Logik des Erzählens.

Er beginnt mit dem Tod, der Beerdigung und der Trauer der Autorin und endet in der Hoffnung: "Jetzt habe ich das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch zur Welt zu bringen." Das ist ihr gelungen.

Aggregatzustände ihres Daseins

Dazwischen liegt nichts weniger als das ganze Leben einer Frau, das die französische Autorin ganz unsentimental, aber voller Liebe durch alle Aggregatzustände ihres Daseins aufgeschrieben hat: das Leben einer Frau – als Kind, Tochter und junge Frau, später Ehe- und Geschäftsfrau, Hausfrau und Mutter, und noch später als Witwe, Großmutter und alte Frau, schlussendlich als demente Frau im Altersheim.

Annie Ernaux, die sich zutreffend "eine Ethnologin ihrer selbst" nennt, ist immer auch eine Ethnologin der Gesellschaft, denn was die heute 78-jährige Französin schreibt, ist exemplarisch. Eine Frau beschreibt das Leben ihrer Mutter, aber das Buch Eine Frau, die Biografie dieser einen Frau, könnte für das Leben vieler Frauen stehen.

Denn Annie Ernaux beschreibt in all ihren Büchern (Der Platz, Die Jahre, Die Erinnerungen eines Mädchens) immer auch soziale Zugehörigkeiten, das macht ihre Autofiktionen zutiefst politisch. "Für eine Frau war die Ehe eine Frage von Leben und Tod, die Hoffnung, es zu zweit leichter zu haben", beschreibt sie die soziale Wirklichkeit ihrer Mutter, bevor sie eine wurde.

1928 heiraten die Eltern, es geht um das Sich-Herausarbeiten aus den kleinen, beengten Verhältnissen. Ernaux macht Milieustudien, beschreibt die Sippe der Mutter, die vom Land kommt, die laut sind und allesamt schon lange "ihre Leere und Wut im Alkohol ertränkten, die Männer in der Kneipe, die Frauen zuhause".

Mutter-Tochter-Beziehung

Eine Frau ist vor allem das Buch einer Mutter-Tochter-Beziehung, fast noch intensiver, als Der Platz eine Vater-Tochter-Beziehung und die Biografie des Vaters beschreibt. (Es ist in Frankreich bereits 1983 erschienen, auf Deutsch auch erst 2019.) Ernaux schreibt über die kindliche Verliebtheit in die eigene Mutter, vom Respekt vor "der Verkäuferin, die zuallererst der Kundschaft gehörte", vom Loslösungsprozess von und vom Kampf mit der Mutter ("Sie hörte auf, mein Idol zu sein").

Es folgt eine Zeit der Distanz, des Waffenstillstands, dann die Wiederannäherung. Annie Ernaux schafft als Frau den Aufstieg in ein Milieu, den sich ihre Mutter immer erträumt hatte. Eine Mutter, die stets betont hat, dass es die Tochter einmal besser haben soll – es schon besser hat. "Manchmal stand ihr in Gestalt ihrer Tochter der Klassenfeind gegenüber", schreibt Ernaux.

Später, als die Mutter dement und im Altersheim ist, vergisst sie nicht nur ihren eigenen Namen, sondern redet die eigene Tochter mit "Madame" an. Aber Ernaux schaut auf diese Frau bis zuletzt, mit einem Blick, der die Mutter als Mensch mit Ambivalenzen und einer Geschichte begreift. Ernaux’ Blick in Eine Frau lässt nichts aus und rückt dennoch alles zurecht. (Mia Eidlhuber, 23.12.2019)