Um in ihr Büro zu kommen, braucht Marianne Stjernvall keinen Schlüssel und auch keine Karte. Sie hält einfach ihre linke Hand an die Eingangstür, die sich prompt öffnet. Das funktioniert dank eines Mikrochips in der Größe eines Reiskorns, den sich die Schwedin vor eineinhalb Jahren einpflanzen ließ. Sie hat damit Zutritt zu ihrem Spind, kann den Drucker bedienen und sogar in der Kantine zahlen – das Geld wird dann von ihrem Konto abgebucht.

Bezahlt hat das Implantat ihr Arbeitgeber. Stjernvall arbeitet für Tui Nordic, die schwedische Tochter von Europas größtem Tourismuskonzern. Sie ist unter ihren Kollegen nicht die Einzige mit dem Implantat. 115 der 500 Mitarbeiter haben sich einen Mikrochip einsetzen lassen. Gezwungen worden sei jedoch niemand, betont Geschäftsführer Alexander Huber in einem Interview mit dem Magazin "Spiegel". "Wir chippen unsere Mitarbeiter nicht, sie lassen sich freiwillig chippen" – aus praktischen Gründen, wie Huber sagt. Denn eine Mitarbeiterkarte verliere man, seine Hand nie.

"Ich war neugierig"

Stjernvall erklärt, sie habe von den Mikrochips bereits vor längerer Zeit gehört, "und ich war neugierig". Die Mitarbeiterin im Web-Development beschreibt sich selbst als "sehr offen" gegenüber neuen Technologien. Sie sieht sich als eine Art Vorreiterin, denn als Technikerin könne sie die richtigen Fragen zur Funktionsweise stellen, sodass sie sich damit wohlfühlt, die Tools auszuprobieren.

Im Handrücken, zwischen Zeigefinger und Daumen trägt Marianne Stjernvall einen Mikrochip. Er ist so groß wie ein Reiskorn.
Foto: TUI / Christian Wyrwa

Die Möglichkeit, sich einen solchen Chip einpflanzen zu lassen, hatte die Belegschaft bei einem Lernevent der Firma. Das Thema der Veranstaltung waren neue Technologien, man konnte Virtual-Reality-Brillen aufsetzen, mit einem Roboter sprechen – oder sich eben einen Mikrochip in die Hand einsetzen lassen. Es habe eine lange Schlange am Stand gegeben, berichtet Stjernvall. Der Erste, der sich chippen hat lassen, war der Geschäftsführer. "Ich habe mich auch sofort angemeldet", sagt die Schwedin.

Die Chips funktionieren folgendermaßen: Jeder Datenträger enthält eine persönliche Identifikationsnummer, die von Lesegeräten erkannt werden kann. Die Technologie dahinter heißt Near Field Communication. Auch kontaktloses Bezahlen mit Bankomatkarte läuft nach dem Prinzip.

Auch eine Visitenkarte

Das Einsetzen habe nicht wehgetan, sagt Stjernvall. "Sie haben die Stelle betäubt, den Chip mit einer Nadel implantiert und ein Pflaster draufgeklebt. Das war's." Bis sie sich daran gewöhnt hat, habe es allerdings schon eine Weile gedauert. "Es war, als hätte ich mir ein Piercing stechen lassen. Da war etwas in mir, das ich sehen kann, fühlen kann, etwas, das vorher noch nicht da war."

Mittlerweile denkt sie allerdings kaum noch nach, wenn sie mit ihrer linken Hand Türen öffnet oder Essen kauft. Der Chip ist Teil ihres Körpers geworden. Er fungiert auch als Visitenkarte: "Wenn man ein Smartphone in die Nähe hält, öffnet sich mein Linkedin-Profil."

Einfach nur die Hand dagegen halten: Stjernvall kann mit ihrem Chip in der Firmenkantine bezahlen.

Tui Nordic diene als "digitales Labor" des Konzerns, heißt es von der Unternehmenskommunikation. Pläne, die Technologie auch in anderen Ländern einzuführen, gebe es derzeit nicht.

Tatsächlich gilt Schweden als besonders fortschrittlich, was neue Technologien angeht. In einem Ranking der EU, das die Länder in puncto Digitalisierung vergleicht, ist es stets ganz vorn dabei. Der Grund ist laut Experten eine frühe Festlegung auf eine digitale Gesamtstrategie.

Die Mikrochips kommen nicht nur am Arbeitsplatz zum Einsatz, sie ersetzen die Mitgliedskarte im Fitnesscenter oder die Eintrittskarte ins Schwimmbad. Auch die staatliche Bahn nutzt die Chips, angeblich als erste Bahngesellschaft weltweit. Implantiert bekommen sie Bereitwillige von der Firma Biohax, die auch die Tui-Mitarbeiter ausgestattet hat.

4.500 bis 5.000 Schweden gechippt

Laut Biohax sind in mittlerweile zwischen 4.500 und 5.000 Schweden gechippt. Das sei allerdings erst der Anfang, prognostiziert Gründer und CEO Jowan Österlund. Er hält es für realistisch, dass künftig zumindest die Hälfte aller Techniknutzer mit einem solchen Chip-Implantat ausgerüstet sein wird.

Sie kann damit auch ihren Spind öffnen. Jeder Mikrochip enthält eine persönliche Identifikationsnummer, die von Lesegeräten erkannt werden kann.

Ähnlich sieht das Huber. Er ist überzeugt, dass die Mikrochips den Alltag extrem vereinfachen können. "Wäre es nicht nützlich, wenn ich keine Schlüssel brauche? Wenn ich meinen Personalausweis in der Hand trage? Wenn kein Ticket mehr nötig wäre zum Fliegen? Wenn der Chip meine vielen Passwörter ersetzt? Oder wenn ich mit dem Chip sogar zahlen könnte?"

In Österreich wäre das derzeit noch undenkbar. Diverse Umfragen zeigen, wie groß die Skepsis gegenüber digitalen Innovationen ist. Für Marianne Stjernvall ist es verständlich, dass nicht jeder so experimentierfreudig ist wie sie. Das sei aber auch gar nicht notwendig. Es reiche vollkommen aus, wenn einige wenige die Tools ausprobieren und ihren potenziellen Nutzen testen.

Angesprochen auf die Reaktionen ihrer Freunde, sagt die Tui-Mitarbeiterin: "Sie waren überrascht, aber positiv, und wollten sofort mehr wissen. Vor allem haben sie gleich nach meiner Hand gegriffen, um zu spüren, wie der Chip sich anfühlt."

Ohne Chip "uncool"?

In der Firma habe das Implantat gerade anfangs für Gesprächsstoff gesorgt. Ob sich die Belegschaft nun in zwei Gruppen teilt – die Coolen mit Chip und die Uncoolen ohne Chip? "Man sieht den Chip ja nicht sofort und weiß damit nicht unmittelbar, wer ihn trägt und wer nicht."

Angst, dass sie von ihrem Arbeitgeber über den Chip überwacht werden könnte, hat die Schwedin nicht. Sie wisse, dass das technisch nicht möglich sei. "Außerdem: Jeder von uns trägt ständig sein Smartphone überall mit sich rum. Das kann viel leichter geortet werden."

Was Stjernvall allerdings wichtig war: dass sie den Chip jederzeit wieder herausnehmen lassen kann. Derzeit kommt das für sie aber nicht infrage. (Lisa Breit, 2.12.2019)