Der deutsche Philosoph Philipp Hübl beschäftigt sich mit der Rolle von Emotionen in der Politik.

Foto: Richard Tanzer

Für rechte Aktivisten wie die Pegida-Demonstranten bestimmt die Zugehörigkeit zur Nation die Identität ...

Foto: Imago / Stefan Boness

Bild nicht mehr verfügbar.

... für linke Klimaaktivistinnen der Fridays-for-Future-Bewegung ist es die Solidarität mit der Menschheit und dem Planeten.

Foto: Reuters / Agustin Marcarian

STANDARD: Sie fordern in Ihren Büchern mehr Vernunft im politischen Diskurs ein. Wie schlecht steht es um die Diskussionskultur in Deutschland und Europa heute?

Hübl: Die Mehrheit der Menschen interessiert sich für Fakten und dafür, wie man Probleme lösen kann. Aber wir sehen auch starke Polarisierungseffekte in den sozialen Medien. Die sehr linken und sehr rechten Stimmen sind sehr laut geworden, die ausgewogene, oft auch erschöpfte Mitte ist ruhiger. Deshalb bekommt man den Eindruck auf Facebook oder Twitter, dass sich die Leute die Köpfe einschlagen. Aber sobald moralisch-politische Themen diskutiert werden, fällt es allen Menschen schwerer, bei den Fakten zu bleiben. Wir wollen unsere moralische Identität schützen, und diese ist durch unsere Werte definiert, die geben wir nicht gerne auf. Wer glaubt, Flüchtlinge sind eine Bedrohung für unsere Identität, wird eher Nachrichten suchen, die dieser These entsprechen, und dazu neigen, alles, was dem widerspricht, etwa Geschichten über gelungene Integration, als Lügenpresse oder als Propaganda zu diffamieren. Das gibt es auf der linken Seite auch. Dort würde man Berichte über eine gestiegene Kriminalitätsrate in Vierteln mit hohem Migrationsanteil herunterspielen.

STANDARD: Sind links und rechts hier gleich?

Hübl: Nein, symmetrisch ist es nicht. Alle Studien zeigen, dass Fake-News, Verschwörungstheorien und Hass im Netz am rechten Rand deutlich stärker sind als am linken. Die gemeldeten Hasspostings kommen fast zu 80 Prozent aus dem rechten Spektrum.

Die Schlange oder das Kaninchen

STANDARD: Sie schreiben, dass auch Konservative abseits der Extreme stark von Emotionen getrieben sind. Wie weit geht das in die Mitte der Gesellschaft hinein?

Hübl: Von Emotionen sind alle getrieben, aber von anderen. Konservative neigen dazu, ihre Umwelt als bedrohlich wahrzunehmen, deshalb wollen sie Schutz und Ordnung. Amerikanische Studien zeigen etwa, dass Republikaner mehr Albträume haben. Wenn man ihnen ein Bild von einer Schlange und einem Kaninchen zeigt, blicken sie auf die Schlange. Liberal-Progressive eher auf das Kaninchen. Dieser Angstmechanismus ist nichts Negatives, er hat uns stammesgeschichtlich vor Gefahren bewahrt. Aber er kann über das Ziel hinausschießen.

STANDARD: Aber gerade in den USA erleben wir links eine evidenz-basierte Debatte, während sie rechts abseits der Fakten läuft, siehe Donald Trump und seine Anhänger.

Hübl: Es gibt einige Studien, die darauf hindeuten, dass die Progressiven einen analytischeren Denkstil haben. Das hat damit zu tun, dass der rechte Rand so extrem ist. Warum leugnen so viele Republikaner den Klimawandel, obwohl sie in anderen Bereichen wissenschaftlich denken können? Das liegt daran, dass sie den Klimawandel als Teil der moralischen Identität des Gegenlagers sehen. Deshalb sind sie im Prinzip dagegen, obwohl es ihnen, wenn sie ihr wissenschaftliches Denken einschalten würden, klar sein müsste, dass alles dafür spricht, dass es den Klimawandel gibt. Dieses Phänomen kennt man auch bei gläubigen Christen in den USA. Die wissen oft, wie ein Laser funktioniert, wie ein Atom aufgebaut ist. Aber wenn man sie fragt, ob der Mensch durch die Evolution entstanden ist, dann sagt ein Großteil Nein. Sie ordnen sich einer Religion zu, und es gehört zur Verteidigung der religiösen Idee dazu, dass Gott den Menschen geschaffen hat.

STANDARD: Und welche Rolle spielen Emotionen bei den Linken?

Hübl: Die Rechten haben mehr Angst, die Linken haben ein stärkeres Mitgefühl als der Durchschnitt. Jeder Mensch hat Mitgefühl mit seiner Gruppe. Die Rechten fühlen mit ihrem Stamm oder Nation verbunden, das Mitgefühl der Linken dehnt sich auf alle Menschen aus, auf alle Schwachen der Welt, die diskriminiert und benachteiligt sind. Es geht so weit, dass sich das Mitgefühl auf Tiere und Biosphäre ausdehnt. Das verstärkt auch das Umweltthema: Die Erde ist krank, die Erde wehrt sich, das darf nicht sein.

Vegan versus Fleisch, Fahrrad versus Auto

STANDARD: Hat diese identitätsgetriebene Politik in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen?

Hübl: Ja. In den 1970er- und 1980er-Jahren standen in den Wahlprogrammen ökonomische Themen im Vordergrund. Da ging es um Einkommensverteilung und Steuerpolitik. Heute stehen immer mehr kulturalistische Themen im Vordergrund: Wie steht man zur Homo-Ehe, zur Emanzipation, zum Multikulturalismus? Da geht es um gesellschaftliche Lebensweisen, und die eignen sich gut für Identitätspolitik – auf beiden Seiten. Als Linker habe ich bestimmte Ideale, die ich nicht aufgeben will und die ich mit einer Gruppe identifiziere, als Rechter genauso: vegan versus Fleischessen, Radfahren versus Autofahren. Früher war die Stammeszugehörigkeit relativ festgelegt. Man hat die Religion der Eltern übernommen und sogar den Beruf, auch die nationale Identität war viel bestimmter. Heute kann man viel freier wählen. Dann gibt es auch mehr Gegensätze.

STANDARD: Fällt es bei Identitätsfragen rechten Kräfte leichter, Menschen anzusprechen?

Hübl: Ja. Am rechten Rand wird Identität durch Merkmale wie Zugehörigkeit zu einer Nation, einer bestimmten Kultur gesehen, während es am linken Rand um universelle Werte geht, und die haben es etwas schwerer, weil sie abstrakter sind. Aber es gibt auch einen progressiven Wertewandel, wir sind in den letzten 70 Jahren grundsätzlich mitfühlender geworden. Freiheitswerte und Rechte für Minderheiten werden immer besser gesichert. Homosexualität war in den 1950er-Jahren eine Straftat, heute kann man in vielen europäischen Ländern heiraten. Minderheiten wurden einst diskriminiert, heute ist man dafür sensibilisiert. Es wirkt bei vielen, wenn man an Fairness und Mitgefühl appelliert. Aber für die schnelle Stimmungsmache eignen sich Angst und Ekel besser.

STANDARD: Warum Ekel?

Hübl: Ekel wird oft unterschätzt. Die Rechte appellieren stark an die Abscheu gegenüber dem Fremden und allem, was vom Natürlichen abweicht. Homosexualität, Frauen, die die gleichen Rechte haben wollen, oder Ausländer. Ekel hat in der Evolutionsgeschichte eine wichtige Funktion als Schutz vor Infektionen, aber es schießt in der modernen Kultur oft über das Ziel hinaus.

STANDARD: Auch Fridays for Future und andere Klimaaktivisten appellieren stark an Emotionen. Ist das klug?

Hübl: Das ist zweischneidig. Wen man das Thema stark emotionalisiert, kann man über das Ziel hinausschießen und die unentschiedene Mitte gegen sich aufbringen, Da werden oft Handlungen von Einzelnen gebrandmarkt, während man den Blick auf das große Ganze verliert. Der SUV-Fahrer auf dem Land hat vielleicht einen kleineren CO2-Abdruck als der Radfahrer aus der Großstadt, der zweimal im Jahr nach Mexiko oder Thailand fliegt. Aber wir zeigen gesinnungsethisch einzelnen Handlungen und Objekten die rote Karte.

Warum die AfD im Osten so stark ist

STANDARD: In Deutschland läuft der Diskurs im Westen und Osten so anders. Woran liegt das?

Hübl: Viele Studien zeigen, dass das wenig mit ökonomischer Unsicherheit zu tun hat. Die AfD-Wähler sind ökonomisch nicht abgehängt, die Wähler der Linksparteien haben ein niedrigeres Einkommen. Es hat zwei andere Gründe: Einmal sind zwei Millionen Ostdeutsche nach der Wende weggegangen. Das waren zu mehr als zwei Drittel Frauen, und es waren eher die Menschen, die offen für Neues waren, was wiederum ein starker Indikator für progressives Denken ist. Die, die zurückblieben, waren eher Männer. Die neigen ohnehin etwas mehr zum autoritären Denken und sind im Durchschnitt etwas rechter als Frauen. Die AfD wird zu zwei Drittel von Männern gewählt. Verstärkt hat die Kluft zwischen Ost und West aber auch eine 30-jährige Phase der Zurücksetzung. Als die DDR zusammengebrochen ist, haben Westdeutsche alle Betriebe und alle wichtigen Posten übernommen. Kaum ein Richter kommt aus dem Osten, es gibt in der Bundeswehr nur zwei von 200 Generälen aus dem Osten. Eine solche Zurücksetzung trifft Männer stärker als Frauen. Gerade die 30- bis 50-jährigen Männer fühlen sich als Menschen zweiter Klasse.

STANDARD: So wird ja auch in den USA das Phänomen Trump erklärt.

Hübl: Ja, es ist ein Rückschlag gegen eine kosmopolitische Elite. Die beste Frage, um herauszufinden, wer Rechtsparteien wählt, lautet: Siehst du die Globalisierung als eine Bedrohung? Das hat die Bertelsmann-Stiftung gefragt. Alle Rechtsparteien in Europa haben da hohe Werte und die AfD mit 78 Prozent den höchsten. Andere Parteien liegen da bei nur 23 bis 38 Prozent. Auch junge Leute zeigen sich da viel weltoffener.

STANDARD: Inwieweit sind die kosmopolitischen Eliten an dieser Polarisierung schuld?

Hübl: Es gibt da einen blinden Fleck der akademischen Eliten. Sie leben in Städten, fahren mit dem Fahrrad, wissen, was LGBTQ heißt, sind sensibilisiert für die Nuancen der Diskriminierung und merken oft nicht in ihrem Kosmos, dass die Mehrheit in kleineren Städten wohnt, wo das Leben anders abläuft. Sie fühlen sich moralisch überlegen und verstärken damit die Polarisierung. Ein Beispiel ist Political Correctness: Es gibt gute Gründe, seine Sprache zu disziplinieren, aber eine Studie in Amerika hat gezeigt, dass Minderheiten, die eigentlich von Political Correctness profitieren sollten, das zu 80 Prozent als nicht hilfreich empfanden. Die Gruppe, der es am wichtigsten war, sich sensibel auszudrücken, sind weiße Akademiker mit einem Jahreseinkommen über 100.000 Dollar. Böse formuliert: Sie haben einen Code gefunden, mit dem sie sich von anderen abgrenzen.

Die Gefährlichkeit von Google und Facebook

STANDARD: Der britische Komiker Sacha Baron Cohen hat zuletzt in einer Rede die sozialen Medien massiv angegriffen. Sind Facebook und Google wirklich so gefährlich?

Hübl: Ich fand die Rede sehr treffend. Google und Facebook sind so mächtig wie Staaten, aber sie sind nicht demokratisch legitimiert. Wir haben das ganz große Glück, dass dort progressive Kalifornier das Sagen haben. Aber man muss sich nur vorstellen, eines dieser Unternehmen wäre in China gegründet worden oder von jemandem, der autoritär denkt. Sie sind eine ganz große Gefährdung für die Demokratie, weil fast alle Menschen Google und Facebook nutzen und es so viele Manipulationsmöglichkeiten gibt. Bei vielen Wahlen reicht es aus, wenn man eine kleine Gruppe der Wechselwähler auf seine Seite bekommt, um die Wahl zu entscheiden. Wenn man sehr viel Macht in die Hand weniger Menschen gibt, ist die Gefahr sehr groß, dass diese Macht missbraucht wird.

STANDARD: Auch Twitter ist wegen der Kürze der Beiträge und wegen des Tempos umstritten. Fördert das Debatten, oder schadet es mehr?

Hübl: Das ist auch zweischneidig. Jeder kann teilnehmen, das ist eine unglaubliche Demokratisierung des Meinungsdiskurses. Früher musste man dafür eine Zeitung oder eine Radiostation gründen oder Flugblätter verteilen. Aber: Soziale Medien führen zu einem Gruppenverhalten. Auf Twitter redet man nicht nur mit einem Gesprächspartner, man hat auch die Peergruppe im Nacken. Mit jedem Tweet will man erst zeigen, dass man zur Gruppe gehört. Das war früher bei den Religionen so. Dafür muss man immer härtere Geschütze auffahren, um die außerhalb der Gruppe anzugreifen. Dadurch entsteht im Netz eine unglaubliche Polarisierung. Wenn aber zwei Personen miteinander reden, dann nähern sie einander an, dann nimmt das Verständnis für die Gegenposition eher zu. Das hat sich auch bei "Deutschland spricht" und "Europa spricht" gezeigt. Wenn aber Gruppen aufeinandertreffen, dann polarisieren sie sich. Es ist sehr schwer, sich von dieser Gruppenzugehörigkeit freizumachen. Wir haben alle eine Stammesmentalität. Aber um einen klaren Kopf zu behalten, sollte man keiner Gruppe zugehören. Das gelingt den wenigsten. (Eric Frey, 29.11.2019)