Einen Tag nach dem Dammbruch, am 3. Dezember 1959, trägt ein Feuerwehrmann einen Buben aus einem zerstörten Haus und bringt ihn in Sicherheit.

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Der gebrochene Staudamm.

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Einsatzkräfte am 4. Dezember 1959.

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Zerstörte Fahrzeuge ...

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... und zerstörte Häuser.

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Es war der 2. Dezember 1959, als die Einwohner von Fréjus abends ein dumpfes Grollen in der Ferne vernahmen. Es wurde lauter und lauter, wuchs sich nach langen Minuten zu einem Donnern aus. Im letzten Moment, bevor das Unheil über die Côte d’Azur hereinbrach, war das Tosen so laut, dass einige Überlebende glaubten, ein ganzes Düsenjetgeschwader brause im Tiefflug über ihre Köpfe.

Dann war das Wasser da. Fast eine halbe Stunde hatte es gebraucht, um vom Staudamm Malpasset den Küstenort Fréjus zu erreichen. Die Welle war 40 bis 50 Meter hoch, überschwemmte alles, riss alles mit. Dahinter folgten 50 Millionen Kubikmeter Wasser, die sich tosend ins Meer ergossen. Die Wasser-, Schlamm und Geröllmassen zermalmten Häuser, Brücken und Höfe auf einer 1,5 Kilometer breiten Schneise. Mauern kippten wie Kartonschachteln um, Betonblöcke tanzten durch die Flut. Unterhöhlte Straßen brachen ein, der Eisenbahnzug Marseille–Nizza landete im Meer.

Die Bilanz war furchtbar: 423 Tote, darunter 135 Kinder, tausende Verletzte und noch viel mehr Obdachlose. Die Familie Gody verlor zum Beispiel 19 ihrer 26 Mitglieder, das Ehepaar Lakdar starb mit seinen zehn Kindern.

Notschleusen zu spät geöffnet

Der Damm war genau um 21.13 Uhr geborsten. Zuvor waren im Hinterland der Côte d’Azur sintflutartige Regenschauer niedergegangen. Am 2. Dezember füllte sich der Stausee Malpasset erschreckend schnell, doch die Wächter öffneten die Notschleusen erst um 18.05 Uhr. Viel zu spät. Dammwärter André Ferro sagte später aus, er habe sogar nachgeschaut, ob es nirgends Sprünge an der fast sieben Meter dicken Betonbasis gebe. Es sei "alles normal" gewesen.

Ein Videorückblick von der Nachrichtenagentur AP.
British Movietone

Der Ort heißt Malpasset, weil das Flüsschen durch die Gesteinsverengung auf der Höhe des Staudamms "mal passe", quasi schlecht durchgeht. Sein nach dem Weltkrieg beschlossener Bau wurde 1954 fertiggestellt.

Fünf Jahre waren nötig, bis die künstliche Wanne voll war. Die abschließenden Kontrollen hatten deshalb im Dezember 1959 noch gar nicht stattgefunden. Außerdem mangelte es an seriösen geotechnischen Vorstudien.

Experten rieten von Damm ab

Ein beteiligter Geologe hatte von dem Standort abgeraten. Während des Baus brachten einzelne Techniker ebenfalls Zweifel an. Die gewölbte, 222 Meter lange Staumauer war zwar solide, sie verlief aber nicht quer zu den Gesteinsschichten, wie das üblich ist, sondern nahezu parallel dazu. Damit konnte der Druck des gestauten Wassers das Mauerfundament verschieben. Das war der Hauptgrund für die Katastrophe. Hinzu kam, dass die ohnehin zu spät geöffnete Überlaufschleuse viel zu klein war. Ihre Notöffnung blieb lange aus, weil das Wasser den nahen Autobahnbau hätte gefährden können.

Überlebende taten ihr Menschenmögliches, zogen die Nacht hindurch unentwegt Verletzte aus den Schlammmassen und Häuserruinen. Zwei Jugendliche fuhren mit einem Strandpedalo und Taschenlampen in das Katastrophengebiet und brachten sieben Personen und eine Leiche zurück. Am Morgen danach eilten von überall Tausende von Zivilschützern, Feuerwehrleute und Soldaten herbei. Tagelang wateten sie durch das stehende, nur langsam ablaufende Wasser. Ein Helfer starb an Erschöpfung.

Heirat post mortem

Die Regierung in Paris rief eine nationale Staatstrauer aus und erlaubte es mehreren schwangeren Frauen, ihre verstorbenen Verlobten post mortem zu heiraten. Das geschah nicht aus Liebe, sondern zum Schutz der unehelichen Kinder, die damals einen schlechten Leumund hatten.

Dann endlich widmete sich die Justiz den Verantwortlichen. Chefingenieur André Coyne verstarb ein paar Monate nach dem Unglück an Krebs, wie es hieß. Für die anderen wurden jahrelange Prozesse organisiert. Sie endeten, heute undenkbar, alle mit Freisprüchen. Bis 1967 prangerten die Urteile die unvorhersehbare Natur an, die den Erdenbewohnern "eine Falle gestellt" habe. Auf die Guillotine konnte man die Natur allerdings nicht legen.

Hilfe vom Schah von Persien

Versicherungen mussten deshalb auch keinen Franc Entschädigung leisten. Der Staat kam für die öffentlichen Schäden auf. Die Opfer erhielten nur private Spenden, allerdings sehr großzügige aus aller Herren Ländern. Sogar der Schah von Persien nahm drei Unglückswaisen auf.

Ja, die Katastrophe von Malpasset hatte die ganze Welt erschüttert. Staudämme brechen nicht häufig, und wenn, dann mit verheerenden Folgen. South Fork (USA), Iruhaike (Japan), Machu (Indien), Puentes (Spanien), Sheffield (Großbritannien), Vajont und Gleno (Italien) sind nur einige der Orte, die im 19. und 20. Jahrhundert davon betroffen waren. Diese Namen sind heute vergessen wie Malpasset. Damals ließen sie die Welt den Atem anhalten. Zumal diese Tragödien etwas Archetypisches haben, wie eine Revanche der Natur oder eine Strafe Gottes für die frevelnde Hybris menschlicher Baukunst. All diese Dammbrüche forderten hunderte oder gar tausende Menschenleben.

Nach jeder dieser Katastrophen fragen sich die Betroffenen: Wie sicher ist der Staudamm, unter dem ich lebe? Sicher ist: Wenn er bricht, bricht die Apokalypse über Mensch und Tier herein, dann wird das Wasser, dieser so geschmeidige, fröhlich sprudelnde Lebensquell, zum steinharten Schrecken aller Lebewesen, zum wild gewordenen, nichts verschonenden Massenmörder.

Erneute Überschwemmungen

Heute ist der Staudamm von Malpasset nur noch eine überwucherte Betonruine. Am vergangenen Wochenende aber kehrte die Erinnerung noch einmal nach Fréjus zurück, als das Departement Var Opfer eines dreitägigen Unwetters wurde. Straßen verwandelten sich in reißende Bäche, der Zug Toulon–Nizza wurde ausgesetzt. In den Häusern stieg das Wasser auf mehr als einen Meter, fünf Menschen kamen ums Leben.

Anwohner eilten herbei, um den Opfern zu helfen. Die sonst so individualistischen Franzosen legten eine exemplarische Solidarität an den Tag. Ein italienisches Restaurant verteilte Gratispizza. Unbekannte kamen, um Wasser abzupumpen, Nachbarn, um Häuser zu reinigen. Man half sich, wie damals vor 60 Jahren. (Stefan Brändle aus Paris, 30.11.2019)