Es ist verständlich, wenn Regierungen beim Amtsantritt ihre vielen Vorhaben und Ziele in höchsten Tönen anpreisen. Das wird in der Regel mit einem griffigen Slogan verbunden. Da heißt es dann etwa schlicht: "Neu regieren!" Oder 2017, etwas pathetisch: "Zusammen. Für unser Österreich!" Scheitern ist also programmiert.

Nicht viel anders läuft das beim Start einer neuen EU-Kommission. Jean-Claude Juncker trat 2014 unter dem Motto "Eine Kommission der letzten Chance" an. Nach Jahren der Finanz- und Wirtschaftskrise standen EU und Eurozone auf der Kippe. Griechenland drohte der Rauswurf aus dem Euro. Es mangelte an Wachstum und Investitionen. Juncker wollte dem mit einem EU-Integrationsschub begegnen, die politische Union fertigbauen. Das eine oder andere ist dabei zwar geglückt. Aber die Union rutschte mit der Migrationskrise 2015, dem britischen EU-Austrittsreferendum 2016 und der notorischen Ignoranz mancher Osteuropäer für Rechtsstaatlichkeit noch weiter in die Krise.

EU-Parlament in Straßburg.
Foto: imago /Xinhua/Zhang Cheng

Trotz "letzter Chance" steht das gemeinsame Europa aber immer noch. Wenn nun das Kollegium unter Präsidentin Ursula von der Leyen antritt und einen "Neustart der Union" propagiert, heißt es: Erwartungen runterkühlen.

Aber: Es gibt doch einen substanziellen Unterschied zwischen 2014 und 2019. Die Weltlage und die zu lösenden Problemstellungen haben sich dramatisch verschoben. Vier riesige Baustellen tun sich für die Europäer auf.

Erstens: Mit dem Brexit muss sich die kleinere, deutlich ärmere EU mit 27 Mitgliedern grundlegend erneuern, ihre Strukturen anpassen und EU-Verträge reformieren. Sie muss bei Entscheidungen viel schneller werden.

Zweitens: Sicherheitspolitisch steht im US-Wahljahr 2020 viel auf dem Spiel, nicht nur transatlantisch in der Nato, sondern im gesamten Verhältnis der EU zu den USA sowie zu Russland, zur Türkei und zu China. Ohne Briten ist dies wohl die größte Schwachstelle der EU-Europäer.

Drittens: Die Digitalisierung wird Arbeits- und Lebenswelten im nächsten Jahrzehnt so revolutionieren, dass kein Stein auf dem anderen bleibt – Sprengstoff für die EU.

Viertens: Darüber schwebt drohend der Klimawandel.

Die EU-27 sollten also kräftig durchstarten, damit sie als Wohlstandsunion im Frieden überleben können. Von der Leyen kann sich nicht mehr auf die Reparatur Europas konzentrieren. Die Union als Ganzes muss als globaler Player bestehen. Es geht am Ende um Aufstieg oder Fall Europas. (Thomas Mayer, 29.11.2019)