Neue Vergewaltigungsvorwürfe erschüttern die französische Öffentlichkeit. Im Gastkommentar widmet sich die frühere Wien-Korrespondentin Joëlle Stolz der Debatte um den Regisseur Roman Polanski.

Kann man das Werk eines Künstlers von seinem Leben trennen? Diese Frage – die wir spätestens seit Caravaggio und Céline kennen – steht seit Wochen in Frankreich im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Der neue Film Roman Polanskis über den Fall Dreyfus, J’accuse ("Ich klage an"), wurde von schweren Anschuldigungen begleitet – wegen sexueller Aggressionen in den 70er-Jahren.

Illustration: Michael Murschetz

Polanskis "Jugendfehler"

Polanski wurde von einem einflussreichen Teil der französischen Intelligenz stets verteidigt, besonders von den Philosophen Alain Finkielkraut und Bernard-Henri Lévy: Polanski sei ein Genie, und seine "Jugendfehler" immer wieder hervorzuholen (damals 43, wurde er 1977 in den USA wegen der Vergewaltigung einer Dreizehnjährigen angeklagt, der Fall ist noch anhängig) zeuge vom Puritanismus der amerikanischen Gesellschaft. Dieselben haben in Sarajevo den Widerstand der Bosniaken gegen serbische Nationalisten unterstützt und Peter Handke scharf kritisiert, weil er mit seiner literarischen Aura die ethnische Säuberung in den Balkankriegen gedeckt hätte.

In Frankreich hat der Literaturnobelpreis für Handke mäßig erregt. Die Medien haben vor allem über die Reaktionen im Ausland berichtet, Le Monde hat dazu einen wütenden Text des Direktors des Festivals d’Avignon Olivier Py (Nobel der Schande) veröffentlicht. Die Aufregung um Polanski hat die Empörung über Handke überlagert, auch wenn die Anschuldigungen ganz unterschiedlicher Natur sind – sexueller Missbrauch für den einen, intellektuelle Complaisance für den anderen.

Neue Vorwürfe

Zwei Jahre nach der #MeToo-Welle, die in Frankreich wegen des offenen Briefs berühmter Frauen, u. a. Catherine Deneuve, in Erinnerung geblieben ist, in dem sie das "Recht zu belästigen" als Preis der sexuellen Freiheit definiert haben, erlebt man den Einsturz des Mythos einer auf Verführung basierenden "französischen Besonderheit". Die jüngsten Ereignisse zeigen es: Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren hier nicht viel harmonischer als anderswo. Die Opfer haben sich nur nicht getraut, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Das Blatt hat sich gewendet, als am 3. November die linke Internetzeitung Mediapart eine akribische Untersuchung veröffentlichte: Die angesehene Schauspielerin Adèle Haenel – sie eröffnete heuer die Viennale – beschuldigte den Filmregisseur Christophe Ruggia der sexuellen Belästigungen, als sie zwischen zwölf und 15 war. Prominente haben ihr für ihren Mut gratuliert. Sie wurde von Isabelle Adjani unterstützt und von der Fernsehmoderatorin Flavie Flament, die 2016 erzählt hat, mit 13 vom Fotografen David Hamilton vergewaltigt worden zu sein. Das Magazin Elle brachte Haenel auf die Titelseite: die Heldin.

"Neofeministischer McCarthyismus"

Ihre Aussage hat zu einer Welle weiterer geführt: die erfolgreiche Schriftstellerin Katherine Pancol über eine Vergewaltigung in ihren Jugendjahren, die Schauspielerin Sandrine Bonnaire (Vogelfrei), dass ein Lebensgefährte ihr vor 20 Jahren das Gebiss und acht Zähne ausgeschlagen hätte. Dies vor dem Hintergrund monatelanger Gespräche der Regierung mit Frauenorganisationen, um das Phänomen der Gewalt in der Partnerschaft zu verringern.

Am 8. November publizierte die Tageszeitung Le Parisien schwerwiegende Aussagen der Fotografin Valentine Monnier gegen Polanski. Von mehreren Zeugen bestätigt, behauptet das Ex-Model, dass der Filmregisseur sie "mit extremer Gewalt" 1975 in seinem Chalet in Gstaad vergewaltigt hätte. Schon in Venedig, wo im September J’accuse uraufgeführt wurde, waren Journalisten geschockt, als ein Freund Polanskis, der Schriftsteller Pascal Bruckner, ihn gefragt hat: "Sie haben die Shoah überlebt. Werden Sie dem neofeministischen McCarthyismus entkommen?" Tatsächlich musste Polanski 2017 unter feministischem Druck auf den Vorsitz der César-Verleihung verzichten.

Keine Garantie für Straflosigkeit

Die Geschichte Monniers erinnert an die der deutschen Schauspielerin Renate Langer. Diese behauptet, 1972 (sie war 15) von Polanski im selben Chalet sexuell missbraucht worden zu sein. Er bestreitet alles, die Französin ist aber die sechste Frau, die diesen Vorwurf äußert.

Am 18. November hat Le Monde mit einem Interview mit dem Journalisten Ronan Farrow nachgelegt: Der Sohn Woody Allens und Mia Farrows, der seine Schwester Dylan unterstützte, als sie den Regisseur pädophiler Berührungen beschuldigte, hat 2018 für seine Recherchen im New Yorker über den Produzenten Harvey Weinstein den Pulitzerpreis erhalten. "Was um Roman Polanski und Adèle Haenel passiert, macht Mut", sagt er. Während Emmanuel Macrons erste Kulturministerin Françoise Nyssen über Polanski gemeint hat: "Es ist ein Kunstwerk, nicht ein Mann. Ich habe nicht ein Werk zu verurteilen", wurde ihr Nachfolger Franck Riester schärfer: "Das Genie ist keine Garantie für Straflosigkeit."

Eine Frage der Macht

Der Feminismus hat unsere Sicht auf sexuelle Gewalt nachhaltig verändert. Es ist übrigens keine Frage des Geschlechts, sondern eine der Macht: Denn es sind meist die Schwachen – Kinder, Homosexuelle, Frauen –, die dieser Gewalt ausgesetzt sind. Endlich hören wir die Opfer sexuellen Missbrauchs in religiösen oder sportlichen Institutionen. Endlich entsetzen uns Vergewaltigungen als Kriegswaffe gegen Frauen im Kongo und in Syrien, wie in den Balkankriegen. Aber auch gegen Männer in Libyen. In den letzten Jahrzehnten sind wir offener und sensibler geworden: Ist das kein Fortschritt?

Es besteht zwar immer die Gefahr, dass die vielbemühte Unschuldsvermutung nicht mehr gelte, wenn schon "medial" verurteilt werde. Letztlich kann allein die Justiz klären, was wirklich passiert ist. Nachdem sie scharf kritisiert wurde, weil sie diesen Weg nicht gehen wollte, hat Haenel Ruggia doch angeklagt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Als Korrespondentin in Wien habe ich 1991 für Libération über den Prozess gegen Otto Mühl, eine wichtige Figur des Wiener Aktionismus, berichtet. Er wurde wegen Missbrauchs von Kindern in der von ihm gegründeten Kommune Friedrichshof zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Heute wäre die Strafe wohl höher ausgefallen. (Joëlle Stolz, 30.11.2019)