Mariss Jansons galt als "Phänomen der Freundlichkeit".

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Als einer der bedeutendsten Dirigenten der letzten Jahrzehnte hätte der Lette Mariss Jansons bei den Salzburger Festspielen 2020 Mussorgskis Boris Godunow leiten sollen. Nun steht die Intendanz vor der traurigen Aufgabe, einen würdigen Ersatz finden zu müssen: Am Sonntag ist Mariss Janson 76-Jährig gestorben, dessen Leben von den politischen Katastrophen und Wendungen des 20. Jahrhunderts geprägt war.

Jansons wurde am 14. Jänner 1943 in einem Versteck im jüdischen Ghetto von Riga geboren; fast die ganze Familie seiner Mutter wurde von den Nazis umgebracht. Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Opernhaus von Riga für ihn zum zweiten Zuhause: Vater Arvids arbeitete dort ab 1944 als Dirigent, die Mutter Iraida als Sängerin. Lettland war aber von der Sowjetunion besetzt.

Der Arbeitsplatz der Eltern wurde zur Inspirationsquelle für das Einzelkind: Zuhause tanzte der Junge der Haushälterin Ballettszenen vor oder arrangierte Knöpfe und Briefklammern auf einem Tablett zu einem imaginären Orchester, das er mit einem Bleistift dirigierte. Danach jedoch die große Veränderung: Der Vater wurde 1952 Assistent des legendären Jewgenij Mrawinskij bei den Leningrader Philharmonikern. Mutter und Sohn übersiedelten vier Jahre später in das heutige St. Petersburg. Es heißt, auf der Zugfahrt in seine neue, fremde Heimat habe der der junge Mariss geweint.

Mit demselben Fleiß, mit dem er als Dirigent später Partituren studierte, lernte der 13-Jährige Russisch. Nach dem Schulabschluss studierte Jansons am Leningrader Konservatorium Violine, Klavier und Orchesterleitung. Bei einem Meisterkurs vor Ort wurde 1968 Herbert von Karajan auf den talentierten Studenten aufmerksam und ermöglichte ihm ein Auslandsstudium in Wien beim großen Dirigentenausbildner Hans Swarowsky. Die Konzertsäle der Stadt waren Jansons ab 1969 zwei Jahre lang mehr Heimat als das Studentenheim in der Pfeilgasse. In Salzburg assistierte er mehrmals Karajan bei den Festspielen.

Schritte ins Ausland

Der Gewinn des Zweiten Preises beim Karajan-Wettbewerb 1971 beendete Jansons‘ Lehrjahre, er bekam in Leningrad eine Professur für Dirigieren (die er drei Jahrzehnte lang innehaben sollte) und wurde 1973 – wie sein Vater – Assistent des gestrengen Mrawinskij, den Jansons später als einen "Hypnotiseur" beschrieb. 1979 wagte Jansons schließlich den Schritt ins Ausland: Als Chef der Osloer Philharmoniker pilotierte der leidenschaftliche Autofahrer das Orchester aus Norwegen auf zahlreichen Tourneen in die Formel Eins der Klangkörper.

Wie sein Vater Arvids zwölf Jahre zuvor erlitt Mariss Jansons 1996 bei einem Dirigat einen Herzinfarkt – doch er überlebte. Den Vorsatz, sein gewaltiges Arbeitspensum deutlich zu reduzieren, brach der Musikbegeisterte jedoch bald. Noch während seiner Amtszeit als Musikdirektor des Pittsburgh Symphony Orchestra (1997-2004) wurde er Chefdirigent des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (ab 2003). Parallel dazu verantwortete er von 2004 bis 2015 die Geschicke des Concertgebouw Orchesters.

"Big Boss"

In Amerika sei man als Musikdirektor der "Big Boss" und dürfe alles allein entscheiden, in Europa werde in den Orchestern alles demokratisch entschieden, resümierte Jansons seine Erfahrungen. Obschon er Beethoven als seinen Lieblingskomponisten bezeichnete, wurde Jansons als Konzertdirigent neben seinen Strauss- und Strawinsky-Deutungen speziell für seine Interpretationen der Symphonien Dimitrij Schostakowitschs gerühmt, den er selbst noch kennengelernt hatte. Als einer, der wie der Komponist im totalitären Sowjet-Regime aufgewachsen war, war es Jansons ein leichtes, die inhaltlichen Doppeldeutigkeiten der Werke zu erkennen.

Früher als andere etablierte Orchesterleiter lernte er die interpretatorischen Anregungen zu schätzen, die von Originalklangkünstlern wie Nikolaus Harnoncourt oder Frans Brüggen aufgebracht wurden. Aufgrund des zeitraubenden Probeaufwands gab Jansons der Oper in seinem Wirken als Dirigent verhältnismäßig wenig Raum. Bei den Salzburger Festspielen leitete er immerhin Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk und Tschaikowskys Pique Dame.

Engagierter Humanist

Mit den Philharmonikern unterhielt Jansons eine enge Bindung, dreimal dirigierte er das Neujahrskonzert: 2006, 2012 und 2016. Dieses Konzertereignis habe für ihn "fast etwas Heiliges", erklärte Jansons. Auch die Arbeit mit Jugendorchestern und musikpädagogische Projekte waren für ihn von großer Wichtigkeit. Eine umfassende Bildung des Herzens sah er als unabdingbar an für eine positive Weiterentwicklung der Gesellschaft. So wird Mariss Jansons auch als engagierter Humanist eine große Lücke hinterlassen. (Stefan Ender, 1.12.2019)