Durch konstante Belästigung im öffentlichen Raum werden "Frauen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, werden damit fast inexistent", sagt Sahar Fetrat.

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Sahar Fetrat kritisiert das Narrativ von der passiven afghanischen Frau, die vom Westen gerettet werden muss.

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Die afghanische Forscherin Sahar Fetrat entdeckte bereits in ihren Teenagerjahren den feministischen Aktivismus für sich, mit 17 drehte sie den Dokumentarfilm "Do Not Trust My Silence" über Belästigung im Alltag von Kabul. Im Gespräch mit dem STANDARD kritisiert sie das Fehlen des Themas Frauenrechte bei den Friedensgesprächen zwischen den USA und den Taliban und erklärt, wie die afghanische Gesellschaft Belästigung von Frauen wahrnimmt.

STANDARD: US-Präsident Donald Trump hat vergangene Woche überraschend Afghanistan besucht und verkündet, dass die Friedensgespräche mit den Taliban wiederaufgenommen werden. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Fetrat: Ich zweifle an der Natur der Friedensgespräche – was bedeutet Frieden in diesem Zusammenhang wirklich? Ja, die Afghanen haben genug von täglichen Explosionen, von Kindern, Frauen und Männern, die jeden Tag sterben. Unter Frieden verstehen die meisten, dass das aufhört, aber natürlich ist Frieden weit mehr, weit größer als das. Nicht zu sterben bedeutet nicht Frieden. Ich bin skeptisch, denn wenn die Gespräche erfolgreich sind, beide Seiten Kompromisse eingehen, die Taliban zurück an die Macht kommen – was passiert dann? Ich glaube nicht, dass es eine einheitliche Gruppe der Taliban gibt. Ich glaube nicht, dass das Frieden bringt, die USA wollen einfach nur raus aus Afghanistan.

STANDARD: Was würde es für afghanische Frauen bedeuten, wenn die Taliban in die Regierung kommen? Wäre es für sie besser, in dem jetzigen Kriegszustand zu leben als mit den Taliban an der Macht?

Fetrat: Diese derzeitige Unsicherheit und Angst wird dazu verwendet, zu vermitteln, dass Frieden und Frauenrechte sich gegenseitig ausschließen, als ob man das eine für das andere aufgeben müsste. Aber das sollte so nicht sein. Wieso können wir nicht Frauenrechte und Frieden gleichzeitig verhandeln? Es entsteht derzeit der Eindruck, dass die Last, Frauenrechte zu verhandeln, nur auf den Schultern der Frauen liegt. Es wird als etwas gesehen, das nicht so wichtig ist, nur "ihre" Verantwortung, nicht die aller. Wieso können wir nicht alle darüber reden? Wieso ist es keine Priorität für alle? Wir brauchen mehr Zusammenarbeit, mehr Verbündete, um dafür einzutreten.

STANDARD: Sie haben 2013 den Film "Do Not Trust My Silence" über Belästigung im Alltag von Kabul gemacht. Was hat Sie motiviert?

Fetrat: Wut und Frust darüber, jeden Tag belästigt zu werden. Zu sehen, dass es in diesem Ausmaß passiert und dass niemand darüber spricht. Danach hat eine Debatte über Belästigung begonnen, afghanische Medien haben dem Thema viel Beachtung geschenkt.

"Do Not Trust My Silence" zeigt, wie alltäglich Belästigung in Kabul ist.
Emanuele Giordana

STANDARD: Welche Auswirkungen hat diese konstante Belästigung im öffentlichen Raum auf Frauen?

Fetrat: Frauen werden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, werden damit fast inexistent. Privilegierte zahlen extra, etwa für Taxis, um dem zu entkommen, gleichzeitig ist auch dort keine Sicherheit gewährleistet. Frauen mit Burka werden oft noch stärker belästigt, weil man sie als noch unterdrückter und sich damit weniger zur Wehr setzend wahrnimmt.

STANDARD: Hat sich in den Jahren, die seit dem Film vergangen sind, etwas im Alltag der Frauen verändert?

Fetrat: Die afghanische Gesellschaft hat sich als Ganzes verändert. Früher haben nicht viele darüber gesprochen, es gab die Ansicht, dass es gute und schlechte Frauen gibt, und nur die schlechten werden belästigt. Das hat sehr viele Frauen verstummen lassen. Heute ist das anders, auch über Belästigung am Arbeitsplatz oder in der Regierung wird gesprochen. Heute hört man es von allen, man sieht, dass Frauen sich gegenseitig unterstützen, auch darin offener sind, ihre Erfahrungen miteinander zu teilen. Früher war es "körperlicher", Frauen wurden angefasst, und die Täter liefen davon. Wenn du dich zur Wehr gesetzt hast, wurde dir selbst die Schuld gegeben. Dieser Diskurs hat sich verändert.

STANDARD: Was wäre nötig, um das Problem langfristig zu lösen?

Fetrat: Wir brauchen noch mehr Diskussionen darüber, vor allem von Menschen an der Spitze. Die Gesetze gegen Belästigung müssen implementiert werden, die Medien müssen es als ein ernstes Thema begreifen.

STANDARD: Welche feministischen Fortschritte wurden in den vergangenen Jahren erreicht?

Fetrat: Viele identifizieren sich nicht mit Feminismus, aber meiner Ansicht nach ist dieser Widerstand feministisch. Dieser Widerstand findet in jeder Gesellschaft, jeder Provinz Afghanistans auf seine eigene Art und in Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten statt.

STANDARD: Zum Beispiel?

Fetrat: In der Provinz Kandahar, wo die Gesellschaft sehr konservativ ist, wo kleine Mädchen schon Burkas tragen müssen: Während der Herrschaft der Taliban gab es dort viele Schulen im Untergrund. Die Taliban haben die Bildung gestoppt, aber nicht die Frauen. Sie hatten ihre eigenen Wege dafür, die neue Generation auszubilden, sie waren nicht passiv, wie es oft im westlichen Narrativ vermittelt wird, dass sie nichts tun und der Westen sie rettet.

STANDARD: Erleben sie den Boom an Coffeeshops in Kabul als befreiend für Frauen?

Fetrat: Ich will die Cafés nicht romantisieren. In jeder wachsenden Stadt gibt es nun Coffeeshops, auch in Kabul, es begann etwa 2015. Es ist ein Ort zum Treffen, zum Reden, eine gute Entwicklung, aber es bleibt ein Geschäft, ein Unternehmen. Am Ende ist es Kapitalismus.

STANDARD: Seit 2018 leben Sie in Budapest, wo sie Gender-Studies studieren. Sie haben mit dem Studium begonnen, kurz bevor die ungarische Regierung ankündigte, das Programm einzustellen. Was steckt hinter dieser Entscheidung von Viktor Orbán?

Fetrat: Sie haben ihre eigene Ideologie, ein heterosexuelles Familienbild ist hier zentral, und Gender-Studies fordern das ihrer Ansicht nach heraus. Sie schaffen eine Angst davor in der öffentlichen Meinung. Und bedauerlicherweise gewinnen sie, weil das leichter ist.

STANDARD: Wie würden Sie Ihre Erfahrungen als woman of color in Budapest beschreiben?

Fetrat: In Afghanistan, Pakistan oder Indien war das, woran ich konstant erinnert wurde: dass ich eine Frau bin. In Budapest und Europa geht es auch um meine Hautfarbe. Natürlich habe ich Rassismus erlebt. Wie die Menschen dich anschreien, wie sie dich behandeln – nur deine bloße Existenz schafft grundlos Angst in Menschen. Wenn du aus einem muslimischen Land bist, kommt Islamophobie dazu. Es ist ironisch, in Afghanistan sehen wir, wie die Taliban Angst erzeugen, Explosionen, Terror – du kommst mit all diesem Trauma hierher, läufst davor weg, und dann wird man als jemand gesehen, der Angst erzeugt. Obwohl man ein Opfer, eine Überlebende des Terrors der Taliban ist. (Noura Maan, 4.12.2019)