1988, bei den Olympischen Spielen in Seoul, dominierte noch die asiatische Gelassenheit: Peter Seisenbacher im Kampf mit dem Franzosen Fabian Canu.

Foto: Votava

Der heimische Judo-Sport durchlebt finstere Tage. In einem Land, das die Leistungen seiner Sportler gewohnheitsmäßig in den Himmel hebt, wohl weil ihm die zivilen Heldentaten seiner Bürger zu alltäglich erscheinen, muss der tiefe Fall eines zweifachen Olympiasiegers besondere Bestürzung auslösen.

Dabei öffnet gerade der ehrwürdige Judo-Sport ein fernöstliches Tor ins Reich der Menschenliebe. In den auf Fitness erpichten Aufbruchsjahren der Ära Kreisky war Judo der letzte Schrei. Biedere Schlosserlehrlinge begehrten, wie Bruce Lee zu sein. Einschlägige Institute, die in die Kunst asiatischer Kampfsportarten unterwiesen, schossen wie Pilze aus dem Asfalt. Gestandene Proletarierkinder, daran gewöhnt, einander wegen jeder Kleinigkeit das Gesäßlecken anzuschaffen, lernten, sich tief voreinander zu verbeugen. Anschließend legte einer den anderen zack, zack aufs Kreuz.

Mich kuschelweichen Babyboomer beeindruckte die stille Höflichkeit, mit der bloßfüßige, junge Männer in weißen Pyjamas miteinander ins Reine kamen. Der jeweils Unterlegene schien sich für die Lektion, die ihm via Schulterwurf erteilt worden war, sogar noch zu bedanken.

Denkwürdige Fusion

Kaum eingeschrieben in die Judo-Schule eines Ex-Söldners, bemerkte ich, wie unter seinen Zauberhänden fernöstliche Gelassenheit und Wiener Draufgängertum miteinander verschmolzen. Kaum war das umständliche Ritual der wechselseitigen Verbeugungen vollzogen, spornte der Trainer seinen Zögling von außen an: "Biag eam um, den Zniacht!" Der Weltgeist war Japaner.

Ich selbst, von langsamer Bewegungsart, kam meist binnen Augenblicken unter einem verschwitzten Judoka zu liegen. Mein vom Ehrgeiz zerfressener Trainer würdigte mich anschließend keines Blickes. "Musst Lulu?", war die einzige Form fernöstlicher Zuwendung, die er mir in solchen Augenblicken der Schmach zuteil werden ließ.

Später machte mein Judo-Lehrer als bunter Hund in TV-Magazinen Karriere. Man sah ihn dort unter markerschütterndem Gebrüll Ziegelsteine halbieren. Danach fuchtelte er mit einer Feuerwaffe herum. Er war während einiger Tage beinahe so berühmt wie der legendäre Zuckerbäcker Udo Proksch. (Ronald Pohl, 4.12.2019)