Vier Jahre lang bin ich mit dem Marco von Rankweil nach Zürich gependelt. Fünf- oder sechsmal die Woche, knapp neun Monate im Jahr. Eineinhalb Stunden mit dem Auto hin, eineinhalb Stunden wieder zurück. Das war brutal, das hat unglaublich an den Kräften gezehrt. Marco ist hinten gesessen, hat sich beschäftigt, gelesen, gegessen, geschlafen. Ich bin gefahren, ich musste mich permanent konzentrieren. In diesen vier Jahren haben wir 475.000 Kilometer abgespult, das Auto war danach zum Wegschmeißen. Ich eigentlich auch. Zweimal hab ich in der Zeit meine Arbeit verloren.

Michael Rossi (46) steht immer hinter Marco (18), er musste aber "einen Schritt zurückgehen".
Foto: Rossi

Es waren gute, anspruchsvolle Jobs in größeren Firmen, einmal war ich Marketingleiter, einmal Betriebsleiter. Doch Eishockey mit dem Marco und die Arbeit, das ist sich irgendwann nicht mehr ausgegangen. Ich bin komplett unter Strom gestanden. Der Marco war 13, als er bei den Lions in Zürich begonnen hat. Meine Frau und ich haben gemeinsam die Entscheidung getroffen, dass wir das durchziehen wollen.

Natürlich war Ehrgeiz von unserer Seite dabei, aber der Marco war von klein auf selbst noch viel ehrgeiziger als wir.

Wir haben viel geopfert

Er hat das Talent, das war klar, er kann es nach Nordamerika in die NHL schaffen. Natürlich war Ehrgeiz von unserer Seite dabei, aber Marco war von klein auf selbst noch viel ehrgeiziger als wir. Der wollte immer trainieren, immer spielen, wir haben ihn bändigen müssen, haben das manchmal nicht geschafft. Oft ist er spätabends mit dem Schläger und der Scheibe noch vor dem Haus gewesen und hat trainiert.

Marco Rossi hat schon Material geliefert für Highlight-Clips.
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Wir haben auch zwei Töchter, die sind drei und sechs Jahre älter als Marco. Es war schon schwierig, dass ich für sie nur wenig Zeit hatte. Wir haben viel geopfert, das muss man richtig wollen. Meine Frau hat Unglaubliches geleistet. Von den Mädels ist nie gekommen, dass sie sich benachteiligt fühlen würden. Wir haben auch immer versucht, dass zumindest einmal in der Woche alle etwas gemeinsam unternehmen. Oft haben wir es geschafft, aber nicht immer. Vor kurzem waren die Mädels zum ersten Mal mit drüben in Kanada und haben dem Marco zugesehen. Sie sind unglaublich stolz auf ihn. Das ist schon eine Art Payback für uns, wenn der Marco vom Eis kommt und wir das Leuchten in seinen Augen sehen.

Der Rossi-Vater ist nicht verrückt

Der Rossi-Vater ist überehrgeizig, der muss verrückt sein. Einige haben das sicher so gesehen, sehen es vielleicht heute noch so. Ich seh das anders. Der Rossi-Vater ist nicht verrückt. Wenn der Vater nicht die Leidenschaft und, von mir aus, auch eine gewisse Verrücktheit mitbringt, wird sich vielleicht auch beim Kind keine Leidenschaft entwickeln. Mein Antrieb war immer, dass sich der Marco wohlfühlen soll. Ich würde sagen, ich hab einen gesunden Ehrgeiz, und Marco hat einen verrückten Ehrgeiz. Er ist ein Biest. Von mir ist nur die Initialzündung gekommen, aber den Motor hat der Marco schon selbst zum Laufen gebracht.

Um halb sechs in der Früh ist er neben meinem Bett gestanden und hat es wiederholt: "Papa, ich geh nach Kanada."

In Zürich hat Marco teils zwei Jahre ältere Gegner schwindlig gespielt. Da sind viele auf ihn aufmerksam geworden. Die Ottawa 67’s, ein Spitzenteam der Ontario Hockey League, haben extra eine Delegation nach Zürich geschickt, sogar ihr General-Manager James Boyd war da, um den Marco zu sehen und mit ihm und uns zu reden. Ottawa wollte den Marco unbedingt. Mir wäre lieber gewesen, er hätte ein weiteres Jahr in der Schweiz gespielt. Der Marco war doch noch ein Kind.

Er ist wie ein Puzzle

Ich hab gleich gewusst, das Match hab ich verloren. Der Marco hat gesagt: "Papa, ich geh nach Kanada." Ich hab gesagt: "Lass uns eine Nacht drüber schlafen, dann besprechen wir das noch einmal." Um halb sechs in der Früh ist er neben meinem Bett gestanden und hat es wiederholt: "Papa, ich geh nach Kanada."

Manchmal denk ich mir, er ist wie ein Puzzle. Viele Puzzleteile hat Marco selbst mitgebracht. Das Talent. Die Einstellung. Den Ehrgeiz im Training. Dazu noch den Willen, nicht nur selbst zu scoren, sondern jeden Mitspieler auf dem Eis besser zu machen. Aber ein Puzzleteil hat gefehlt: die Selbstständigkeit. Ich hab gewusst, ich muss einen Schritt zurückgehen, ich muss ihn loslassen. Das war nicht einfach, es hat mir wehgetan. Ich war gewohnt, ihn jeden Tag atmen zu hören im Auto. Und plötzlich hat er nicht mehr bei mir im Auto, sondern irgendwo in Kanada geatmet. Aber das hat er gebraucht, so ist er richtig reif geworden.

Marco Rossi hat sich als Punktesammler und Leader in Ottawa etabliert.
Foto: Valerie Wutti

Wenn der Marco früher aufs Eis gegangen ist, hab ich gesagt: Vollgas und viel Spaß. Jetzt sag ich: Pass auf und viel Spaß. Je größer er ist, umso härter ist das Eishockey, das er spielt. Dass die Eisflächen in Nordamerika kleiner als in Europa sind, kommt noch dazu. Da gibt es andauernd Zweikämpfe an der Bande.

Ich bin sofort da

Wir telefonieren jeden Tag. Marco wohnt bei seiner zweiten Gastfamilie ganz in der Nähe der Eishalle. Das spart ihm viel Zeit. Er ist unkompliziert, gewisse Regeln wie Bitte und Danke sagen hat er von daheim schon mitbekommen. Mit seiner ersten Gastfamilie haben wir immer noch Kontakt. In Kanada gibt es viele eishockeyverrückte Menschen, die freuen sich, wenn sie einen wie Marco bei sich wohnen haben und ihn unterstützen können. Und er weiß: Wenn er mich braucht, bin ich sofort da.

Wir haben insgesamt sehr viel riskiert. Allein mit den vielen Autofahrten, teils in der Nacht, bei Schneefall und Glatteis. Ich bin dem Herrgott dankbar, dass wir nie einen Unfall hatten.

Über den Draft, über eine mögliche Zukunft in der NHL, auch über den finanziellen Aspekt reden wir kaum. Für mich ist es wichtig, ihm da ja keinen Druck zu machen. Er weiß ja selber, wohin es gehen kann. Marco ist jetzt in der Situation, die er lange ersehnt hat. Knapp davor, den Traum zu realisieren. Wenn du gedraftet bist, ist es damit nicht getan. Aber Marco ist eh keiner, der sich ausruht, er geht beinhart seinen Weg. Er will NHL spielen.

Wir hatten Zeit zu reden

Es gab immer das Risiko, dass er nicht erreichen kann, was er erreichen will. Das Risiko ist immer noch da. Aber wir sehen ein Licht am Ende des Tunnels. Wir haben insgesamt sehr viel riskiert. Allein mit den vielen Autofahrten, teils in der Nacht, bei Schneefall und Glatteis. Ich bin dem Herrgott dankbar, dass wir nie einen Unfall hatten. Der Marco und ich haben viel Zeit miteinander verbracht, allein schon im Auto. Wir haben über Gott und die Welt geredet, vor allem über Eishockey. Über bestimmte Spieler, über Talent, über Einstellung.

Als Marco nach Kanada gegangen ist, war ich komplett leer. Auf einmal hatte ich sehr viel Zeit. Damit umzugehen, war gar nicht so einfach. Meine Frau und ich haben uns fast wieder neu kennengelernt. Wir waren wandern und wellnessen, auch mit den Töchtern hab ich endlich wieder mehr Zeit verbracht. Früher hab ich permanent auf die Uhr geschaut, weil ich immer auf dem Sprung war. Schnell noch etwas erledigen und dann den Marco abholen. Mir ist jeden Tag die Zeit davongelaufen. Ich ertappe mich immer noch oft dabei, wie ich auf die Uhr schaue. Das hat sich automatisiert, obwohl ich gar nicht mehr wissen muss, wie spät es ist. (Fritz Neumann, 4.12.2019)