Jedes Gebiet in Italien hat eine eigene lange wie abwechslungsreiche Geschichte. Davon nicht ausgenommen ist auch der äußerste Südosten Italiens, das heutige Apulien. Vor der Ankunft der Römer und der Ausbreitung ihrer Herrschaft (erste römische Kolonie Luceria, heute Lucera, gegründet 314 vor Chr.) lag Apulien, und hier besonders der südlichste Teil, der Stiefelabsatz, im kulturellen Einflussbereich der Griechen, die ihren Koloniengürtel in Süditalien und auf Sizilien als Megálē Hellás, lateinisch Magna Graecia, also Großgriechenland bezeichneten.

Apulien, heutiges Kalabrien und Sizilien in der Peutingerschen Tafel, nach dem Original aus dem 4. Jahrhundert nach Christus.
Foto: Digitalsat der ÖNB

Das Volk am Stiefelabsatz

Mit der römischen Herrschaft kam schließlich auch die lateinische Sprache in das antike Apulien und verdrängte allmählich die Sprache der einheimischen vorrömischen Bevölkerung. Für diese sind verschiedene Bezeichnungen bekannt, so schon in antiker Zeit der Überbegriff Japyger, aber auch lokal gebundene Namen wie Daunier, Peuketier und Messapier. Als Messapier wurde dabei jene Bevölkerung benannt, die ihren Wohnsitz im Stiefelabsatz hatte, der heute Salento heißt und seinen Namen dem antiken Stamm der Sal(l)entini verdankt. In ganz Apulien, besonders gehäuft aber im Salento finden sich circa 600 einheimische vorrömische Inschriften, deren älteste Belege in das 6. vorchristliche Jahrhundert datiert werden können und deren jüngste im 2. Jahrhundert vor Christus enden.

Die Mehrzahl der Inschriften befindet sich auf Stein, aber auch auf Keramik und verschiedenen anderen Objekten sind Inschriften bezeugt. Für die Epigrafik des antiken Apulien hat sich die übergreifende Bezeichnung messapische Inschriften eingebürgert. Geschrieben sind sie in einem eigenen, sogenannten messapischen Alphabet, das die einheimische Bevölkerung von den Griechen Tarents übernommen und zusätzlich mit einem eigenen Zeichen in Form eines Dreizacks erweitert hatte. Die Lesung dieser einheimischen Epigrafik bereitet somit keine Mühe.

Grabinschrift eines Arthas, deutlich zu erkennen ist der für das messapische Alphabet typische Buchstabe in Form eines Dreizacks.
Foto: J. Matzinger

Schwierige Interpretation

Die Tücken der Dokumentation liegen dagegen ganz woanders. Auch wenn die Zahl von 600 Zeugnissen beeindruckend ist, hat man es doch überwiegend mit kurzen Grabinschriften zu tun, die lediglich den Namen der bestatteten Person nennen, meist Vorname und Nachname. Im Fall einiger längerer Steininschriften dagegen ergeben sich zwei Probleme. Viele wurden schon vor langer Zeit gefunden, die Inschriftenträger sind inzwischen aber verloren. Die Fundumstände sind oft unbekannt und, wenn überhaupt erfasst, dann in damals üblicher, heute jedoch als vorwissenschaftlich zu nennender Art und Weise. Erhalten sind nur alte Abzeichnungen, die als Grundlage für ihre Interpretation herhalten müssen. Der fehlende Fundkontext erschwert aber auch bei noch erhaltenen längeren Inschriften deren Interpretation, weil nicht klar ist, für welchen Zweck sie gesetzt wurden. Messapische Wörter, die nur ein einziges Mal in solchen Inschriften belegt sind, lassen sich daher kaum oder nur mit Vorbehalt deuten.

Was man aber doch bei allen Schwierigkeiten der Materialüberlieferung zweifelsfrei erkennen kann, ist, dass die Sprache der messapischen Inschriften nicht zur Gruppe der sogenannten italischen Sprachen gehört, die aus dem Lateinischen und dem nahe verwandten Faliskischen, dem Venetischen sowie den als sabellisch benannten Sprachen besteht, deren bekannteste Vertreter das Umbrische und das Oskische sind. Letzteres ist manchen durch die Wandinschriften aus Pompeji ein Begriff. Ähnlichkeiten in der Namengebung und manche Formen, die aus den Inschriften analysierbar sind, lassen die Annahme zu, dass die messapische Sprache in vorgeschichtlicher Zeit aus dem gegenüberliegenden Westbalkanraum nach Italien gekommen ist. In welcher Beziehung das indogermanische Messapische allerdings mit den alten indogermanischen Sprachen des Balkans stand, zum Beispiel dem Illyrischen, muss offenbleiben, da jene überaus rudimentär überliefert sind. Unabhängig von der Herkunftsfrage steht jedoch fest, dass sich die Kultur der Messapier und ihre dokumentierte Sprache endgültig in Italien formiert haben.

Hinein in die Grotte

Die Inschriften der messapischen Sprache, viele in den Museen von Lecce, Bríndisi und anderen Orten des Salento und Apuliens zu bestaunen, sind seit 2002 in einem großen, zweibändigen Korpus gesammelt, jedoch mit Ausnahme vieler Inschriften, die an zwei Wänden in der sogenannten Grotta della Poesia angebracht sind, einer Grotte, die schon in vorgeschichtlicher Zeit als Kultplatz genutzt wurde.

Abstieg zur Grotta della Poesia.
Foto: J. Matzinger

Dieser Fundort in der salentinischen Gemeinde Melendugno, etwa 20 Kilometer südöstlich von Lecce an der Adriaküste gelegen, wurde 1983 entdeckt und das epigrafische Material, das geschätzt hunderte messapische, aber auch dutzende lateinische Inschriften enthält, wartet seither darauf, wissenschaftlich ediert zu werden. Eine solche Edition aber wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen, sind doch die meisten Inschriften überlagernd geschrieben, sodass es überaus mühevoll sein wird, die einzelnen Inschriften, deren Datierung aufgrund der Zeichenformen vor allem in das 3. Jahrhundert vor Christus erfolgen kann, voneinander zu trennen. Auch sind die Inschriften von ganz unterschiedlicher Lesbarkeit, manche sind tief in die Wände eingeritzt, andere nur an der Oberfläche angekratzt, und auch die jahrhundertelange Witterung sowie Wassereintritt haben ihre unabwendbar deutlichen Spuren hinterlassen.

Neue Erforschung

Am 30. Oktober 2019 erhielt eine Gruppe von Forschern aus Österreich und der Schweiz die offizielle Ausnahmegenehmigung der Sopraintendenza Archeologia Belle Arti e Paesaggio in Lecce, die sonst unzugängliche Grotte zu betreten und sich in Begleitung und kundiger Führung durch einheimische Experten ein Bild von diesem einzigartigen Fundplatz zu machen.

Nach einer Phase längeren Stillstands, der auch chronischem Geldmangel geschuldet ist, wurden die Arbeiten an diesem wichtigen Fundort wiederaufgenommen. Und auch wenn es noch viele Jahre geduldiger Sisyphusarbeit bedarf, so wird die Edition des epigrafischen Materials aus der Grotta della Poesia eines Tages das Wissen um die messapische Sprache erheblich erweitern und bereichern. Aus wenigen bereits publizierten Inschriften ist bekannt, dass diese oft dem Gott Thaotor (in den lateinischen Inschriften Tutor genannt) gewidmet sind, der speziell in dieser Grotte kultisch verehrt wurde und der als Empfänger von Opfergaben fungiert. Sind diese zahlreichen Inschriften einmal vollständig ediert, so wird sich auch das Verständnis von den Kulthandlungen der Messapier enorm erweitern, und ein bedeutender Aspekt ihres Lebens wird so noch weiter fassbar als bisher. Die Grotta della Poesia ist ein aufgrund ihres epigrafischen Materialreichtums einzigartiger Fundort, dessen weitreichende Bedeutung für das alte Italien und den gesamten mediterranen Bereich noch nicht abzuschätzen ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Erforschung der Grotta della Poesia zügig voranschreitet, damit dieses materielle Erbe der Menschheit für die Nachwelt vollständig dokumentiert und auch sicher vor weiterem Verlust bewahrt wird. (Joachim Matzinger, 11.12.2019)