Elisabeth Lechner: "Lookismus, die Beurteilung über das Äußere, ist noch extrem stark."

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Ein Körper wie der von Ashley Graham ist dank Body-Positivity inzwischen akzeptierter, während viele andere weiterhin unsichtbar bleiben.

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Die Vorstellungen davon, was schön ist und was nicht, bewegen sich noch immer in einem sehr engen Rahmen. Vor allem von Frauen wird noch immer erwartet, dass sie Zeit und Geld in Schönheitsarbeit investieren, damit sie dem herrschenden Schönheitsideal näher kommen. Auch Lookismus, also Diskriminierung aufgrund des Aussehens, gehört zum Alltag. Doch in den letzten Jahren hat die Body-Positivity-Bewegung einen enormen Aufschwung erlebt und engagiert sich dafür, dass auch Körper abseits des Ideals als schön gelten: dicke, behaarte, ältere oder nichtweiße Körper. Diese Bewegung ist nicht zuletzt aufgrund des massiven Drucks durch die omnipräsente Selbstinszenierung auf sozialen Medien so stark geworden, sagt Elisabeth Lechner, die die Body-Positivity erforscht.

STANDARD: Wie hat sich die Body-Positivity-Bewegung entwickelt?

Lechner: Die Kritik an Schönheitsstandards begann in den 1960er-Jahren mit der zweiten Frauenbewegung in den USA. Damals entstand die Fat-Acceptance-Bewegung, die sehr radikal war und das Ziel hatte, gegen die spezifische Diskriminierung von dicken Frauen vorzugehen und "fat" von seinen negativen Zuschreibungen loszulösen; es als bloße Beschreibung gelten zu lassen – ohne Wertung. Damals war von Body-Positivity allerdings noch keine Rede. Mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan kam für die Frauenbewegung ein harter Backlash, und in den 1980er-Jahren ist die Fat-Acceptance-Bewegung versandet. Eine neue Sichtbarkeit hat dann erst wieder das Internet gebracht: In den ersten Foren haben sich Leute, die unter Schönheitsnormen leiden, zusammengefunden. Mit den sozialen Medien hat dann das Ganze noch einmal einen Aufwind bekommen.

STANDARD: Hat das Internet die Body-Positivity-Bewegung allein angestoßen?

Lechner: Und die Popkultur. Die bekannte Serie "Girls" von Lena Dunham kam im Jahr 2012 raus. Zwei Jahre zuvor ging Instagram online und hatte 2012 schon eine gewisse Reichweite. Damit gab es – für Fans und KritikerInnen – neue Möglichkeiten, mit Popkultur zu interagieren, man konnte diese Serien zerlegen. "Girls" löste viele Kontroversen aus, vor allem um Serienerfinderin und Hauptdarstellerin Dunham: dass sie ihre Privilegien als weiße Frau nicht reflektiert, eine totale Nabelschau betreibt, ihre Geschichte unendlich ausbreitet und Kohle damit macht. Die breit geführten Debatten um Körperbilder in der Serie und die Autorin/Protagonistin haben dazu beigetragen, dass diese Bewegung in den Mainstream gekommen ist. Interessanterweise hat sich Dunham aber nie hingestellt und gesagt: Ich bin die Body-Positivity-Queen! Aber sie war mit ihren kleinen Brüsten und der birnenförmigen Figur ein radikaler Bruch, etwa wenn man "Girls" mit "Sex and the City" vergleicht.

STANDARD: Die erste Szene von "Girls" beginnt auch damit, dass die Hauptfigur Hanna von ihrer besten Freundin Marnie, die eine Modelfigur hat, gesagt bekommt: Du bist wunderschön.

Lechner: Ja, und Hanna sagt zur schönen Marnie, dass sie sie bisher noch nie nackt gesehen hat. Es wird also völlig umgedreht: Die mit der Modelfigur ist total gehemmt in ihrer Körperlichkeit, und die dickere Hanna fühlt sich wohl. Allerdings muss man sehen, dass die Grenzen von Schönheitsnormen meist eben nur von Leuten wie Lena Dunham verschoben werden dürfen, die weiß sind und mit ein paar Kilo mehr nur minimal die Schönheitsnormen überschreiten – und eigentlich aussehen wie jeder und jede andere auch.

STANDARD: In sozialen Medien inszenieren sich Menschen mit perfekter Haut, gestähltem Körper und in jeder Lebenslange gutaussendend. Bringt das nicht noch mehr Druck?

Lechner: Ja, der wachsende Druck ist sicher der Grund, warum es immer mehr Leute gibt, die dem etwas entgegensetzen wollen. Dass es mehr Druck gibt, zeigt auch die Forschung, es gibt eine Intensivierung und Extensivierung von Schönheitsdruck. Intensivierung, weil es eine Omnipräsenz von Kameras gibt und man ständig Fotos von sich machen kann. In den 1970er-Jahren hat es ewig gedauert, bis ein Foto bearbeitet war und man es sich anschauen konnte. Heute kann ich in einer Minute 100 Selfies von mir machen und sie ganz einfach mit zahlreichen Filtern und Apps nachbearbeiten, bevor ich sie mit meinen Followern teile. Und Extensivierung heißt, dass immer neue Körperregionen dazukommen, die "verbessert" werden müssen, wie etwa die Vulvalippen oder der Thigh Gap, die Lücke zwischen den Oberschenkeln, die man dem Schönheitsdiktat zufolge haben sollte. Es wäre deshalb wichtig, Kindern in der Schule so viel Medienkompetenz mitzugeben, dass sie das einordnen können. Sie müssen wissen, dass es der Job von BloggerInnen oder InfluencerInnen ist, den ganzen Tag Schönheitsarbeit zu leisten um irgendwelche Werbedeals zu ergattern.

STANDARD: Die zweite Frauenbewegung erkämpfte viele Gesetzesänderungen. Spielt bei feministischen Bewegungen wie Body-Positivity nun vorwiegend die Handlungsfähigkeit jeder Einzelnen eine Rolle?

Lechner: Wichtig ist zu sehen, Schönheit ist absolut kein oberflächliches Thema. Es wird gerne als "Frauenthema" abgetan, aber Schönheit muss man als patriarchales, kapitalistisches Konstrukt kritisieren, das der Unterdrückung von Frauen dient. Und zunehmend auch der von Männern. Verwässerte Teile der Body-Positivity-Bewegung, die überhaupt nichts mit ihren radikalen Ursprüngen in den 60er- und 70er-Jahren zu tun haben, vermitteln tatsächlich: "Du musst halt jetzt einmal an deinem Verhältnis zu deinem Körper arbeiten", "Jetzt lieb dich doch". Aber strukturell ändert das wenig. Lookismus basiert auf Sexismus, Rassismus und Ageismus – und das kann man nicht auf das Individuum abwälzen.

STANDARD: Was könnte man auf der strukturellen Ebene tun?

Lechner: Ich halte Verbote von krass sexistischer und damit auch lookistischer Werbung, wie es sie in Großbritannien gibt, und Presseförderung für inklusive, vielfältige Beispiele für sehr sinnvoll. Auch die eindeutige Kennzeichnung von Bildern als bearbeitet, wie es in französischen Modemagazinen eingeführt wurde, kann ein Schritt in die richtige Richtung sein. Am wichtigsten erscheinen mir jedoch Medienkompetenzkurse für angehende LehrerInnen und ihre SchülerInnen sowie die Unterstützung feministischer Organisationen und Vereine, die Geschlechterstereotype hinterfragen und über ihre Kanäle leicht verständlich erklären, was beim Thema Body-Shaming und Lookismus auf dem Spiel steht.

STANDARD: Welche Folgen hat das?

Lechner: Studien belegen, dass Menschen, die als schön gelten, bereits in der Schule bevorzugt werden, leichter einen Job und eine/n Partner/in finden, schneller befördert werden und die bessere Gesundheitsversorgung erhalten. Dicke Menschen hingegen werden medial als das Gegenteil von Schönheit konstruiert, mit Faulheit, Kontrollverlust und Krankheiten assoziiert und dementsprechend in unserer neoliberal geprägten Leistungsgesellschaft als "verantwortungslose BürgerInnen" abgewertet und beschämt. Die Konsequenzen von ausgeprägtem Body-Shaming inkludieren unter anderem Selbstbewusstseins- und Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Depression, Rückzug aus dem Sozialen, etwa weil man sich "zu dick" für etwas fühlt, und Vereinsamung.

STANDARD: Konzerne und Internetplattformen mischen aber bei Body-Positivity auch mit. Geben sich da politischer Aktivismus und Kapitalismus die Hand?

Lechner: Es gibt zum Beispiel die Firma Einhorn, die faire, nachhaltige Kondome und Periodenartikel herstellt und mit ihren bunten Verpackungen aktiv gegen das gesellschaftliche Tabu rund um Menstruation ankämpft. Die haben über ihre Social-Media-Kanäle einer Petition zu viel Sichtbarkeit verholfen, die fordert, dass die Luxussteuer auf Periodenprodukte in Deutschland heruntergesetzt wird – und haben es tatsächlich letztlich durchgesetzt, mit einer Masse an Unterschriften. Die hatten einfach eine riesige Reichweite, das ist schon faszinierend. Natürlich muss man grundsätzlich strukturelle Veränderung fordern, aber solange die Leistungsgesellschaft nicht abgeschafft ist, muss man sich der Gefahr der Kommerzialisierung stellen. Aufhören mit Aktivismus wegen möglicher Vereinnahmung ist keine Option. Das ist eine sehr pragmatische Herangehensweise, und die halte ich für ganz gut.

STANDARD: Mit dem Hashtag Body-Positivity werden auch Körper gezeigt, die alles andere als weit vom Schönheitsideal entfernt sind, eine winzige Delle am schlanken Oberschenkel reicht da manchmal schon. Ist die Latte für "Body-Positivity!"-Rufe oft nicht sehr niedrig?

Lechner: Als Reaktion auf die immer stärkere Kommerzialisierung der Body-Positivity-Bewegung hat sich die Body-Neutrality-Bewegung herausgebildet. Body-Positivity sagt, alle Körper sind gut und schön, und hinterfragt, warum diese Körper als schön gelten und andere nicht. Hinter Body-Neutrality steckt eine phänomenologische Idee: Man ist dem Körper dankbar, dass er einen durchs Leben trägt, aber man ist sehr viel mehr als dieser Körper. Das ist ein schönes Ziel, aber derzeit wird noch extrem viel über das Aussehen definiert – so weit sind wir noch nicht. Lookismus, die Beurteilung über das Äußere, ist noch extrem stark.

STANDARD: Gillette hat für eine Kampagne für Damenrasierer das "Plus-Size"-Model Anna O'Brien engagiert, das mit seiner fülligen Figur auch im "Plus-Size"-Business eine Ausnahme darstellt, wo ein flacher Bauch, ein schlankes Gesicht und die perfekte Sanduhrfigur à la Ashley Graham die Norm darstellen. Kalkulieren Konzerne mit Lookismus, um maximale Aufmerksamkeit zu erregen?

Lechner: Gillette hätte es kommen sehen und intensiv in den sozialen Medien moderieren müssen. Wenn man wirklich interessiert ist an Vielfalt in der Werbung, hätte man sicherstellen müssen, dass sie nicht auf allen möglichen Kanälen beschimpft wird. Andererseits war es sehr radikal, Anna O'Brien als Model zu nehmen, das ist für das Thema Sichtbarkeit sehr wichtig. Diese Kampagne zeigt allerdings auch, dass Sichtbarkeit nicht jedem dasselbe bringt und dass sie für jene, die vom Schönheitsstandard sehr weit weg sind, einen sehr hohen Preis hat. Das Risiko, für Body-Positivity einzutreten, ist für eine leicht mollige Bloggerin deutlich geringer als für Menschen wie O'Brien, denen massiver Hass entgegenschlägt. Obwohl Menschen wie O'Brien diese Bewegung begründet haben, gibt es für sie visuell überhaupt keinen Platz. Stattdessen kommen im Zuge von Body-Positivity problematischerweise vor allem Models wie Ashley Graham mit perfekter Sanduhrfigur und wunderschönem, schlankem Gesicht vor. Hätte sie für Gillette geworben, hätten alle geschrieben "So sexy!" – während sie Anna O'Brien den Tod wünschen. (Beate Hausbichler, 24.12.2019)