Vergangene Woche haben sich Tayyip Erdoğan (rechts) und Fayez al-Serraj (links) in einem bilateralen Abkommen auf die "Abgrenzung der maritimen Zuständigkeiten" zwischen der Türkei und Libyen geeinigt.

Foto: APA/ AFP Turkish Presidential Press Service

Dass es im Mittelmeer eine neue Krise gibt, sickert erst langsam ein: Vielleicht hoffte man ja auch auf eine kathartische Wirkung des Nato-Gipfels in London. Dort wollte der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis am Mittwoch Aufklärung von der Türkei, was die neue selbstverordnete türkische Seegrenze im Mittelmeer bedeuten soll, die östlich einiger griechischer Inseln, von Rhodos über Karpathos bis Kreta, und von dort in den Süden verläuft.

Auf die "Abgrenzung der maritimen Zuständigkeiten" – also der Wirtschaftszonen – zwischen der Türkei und Libyen hatte sich Präsident Tayyip Erdoğan am 27. November in einem bilateralen Abkommen mit dem Premier der international anerkannten Regierung in Tripolis, Fayez al-Serraj, geeinigt. Auch Libyen beansprucht damit Gewässer südlich von Kreta, die Athen hingegen zum Festlandsockel der Insel rechnet.

Drohende Ausweisung

Griechenland hat die Nato aufgefordert, gegen die "offene Verletzung des internationalen Rechts" durch das Nato-Mitglied Türkei vorzugehen. Dem libyschen Botschafter in Griechenland droht die Ausweisung. Athen berät sich auch mit Kairo: Die Mittelmeeranrainerstaaten werden wohl jetzt selbst das Projekt, ihre eigenen Wirtschaftszonen zu bestimmen, vorantreiben.

Aber auch die anderen Mitglieder des Eastern Mediterranean Gas Forum – neben Griechenland sind das Zypern, Israel, Jordanien, die Palästinenser, Ägypten und Italien – sind empört. Die Türkei will im Konflikt um die Ausbeutung der Gasvorkommen im Mittelmeer Fakten schaffen. Bisher hatte der Streit sich auf die Vorkommen rund um die Insel Zypern konzentriert. Nun weitet Ankara das Gebiet für seine Machtprojektion bedeutend aus.

Die Rückkehr der Osmanen

Dementsprechend war das Echo in regierungsfreundlichen türkischen Medien. Die nationalistische Yeni Safak bejubelte die "Zerschlagung eines Komplotts wie der Vertrag von Sèvres 1920". Das war jener Pariser-Vororte-Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg, laut dem das Osmanische Reich nach seiner Niederlage auch Territorien verloren hätte, die es bis zum Vertrag von Lausanne (1923) aber wieder zurückerobern konnte. Noch krasser ist der Bezug auf Barbaros Hayreddin Pasa: Der osmanische Korsar kontrollierte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Teile der Küste Nordafrikas.

Warum die Regierung in Tripolis da dennoch mitmacht, ist klar: Ist Erdoğan an einer Ausweitung des türkischen Einflusses im Mittelmeer interessiert, so geht es der Regierung von Fayez al-Serraj um den anderen Teil des Abkommens: die verstärkte militärische Kooperation mit Ankara.

In ihrem Konflikt mit dem ostlibyschen General Khalifa al-Haftar, der seit April die Hauptstadt Tripolis belagert und angreift, wird Serraj von Ankara mit Waffen unterstützt. Haftar hingegen erhält massive militärische Hilfe von etlichen anderen Staaten wie Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Russland. Die Nato bekräftigte in London zwar die Unterstützung eines UN-geführten Friedensprozesses in Libyen – und die Regierung Serraj ist auf Uno-Vermittlung zustande gekommen; aber es gibt auch in der Nato keine Einigkeit, wie mit Haftar umzugehen sei.

Verzweifelter Serraj

Frankreich bekennt sich zum UN-Prozess, aber unterstützt gleichzeitig Haftar, und US-Präsident Donald Trump ist dem ebenfalls nicht abgeneigt. Man könnte überspitzt sagen, dass Serraj Erdogan in die Arme getrieben wurde und diesen Kuhhandel aus Verzweiflung abgeschlossen hat. Auch Serraj ist zwar kein starker Partner für Ankara, aber bisher hatten die Türken nur die nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern auf ihrer Seite.

In einer Erklärung legte die Türkei am Wochenende ihre Rechtsmeinung dar, mit der sie jedoch ziemlich allein dastehen dürfte: Inseln – die griechischen – hätten keinen Anspruch auf "maritime Zuständigkeiten" über ihre Hoheitsgewässer hinaus und ergo keinen Einfluss auf türkische Ansprüche. Mit einer Karte der türkischen "blauen Heimat", Mavi Vatan, ließ sich Erdoğan bereits im September ablichten, dort fanden auch jüngst große Marinemanöver statt.

In Yeni Safak schwärmt das Erdoğan-Sprachrohr İbrahim Karagül davon, dass die Türkei ihre aufs Festland konzentrierte Selbstwahrnehmung ablegen und die Meeresflächen und in einem weiteren Schritt türkische ethnische Gebiete anderswo mitdenken müsse. Entgegen dem offiziellen Narrativ sagt Karagül auch, dass es bei der türkischen Invasion in Nordsyrien nicht um die PKK oder Terrorbekämpfung gegangen sei, sondern darum, die "Einkreisung" der Türkei zu durchbrechen. (Gudrun Harrer, 5.12.2019)