Im Gastkommentar erläutert der ehemalige grüne Außenminister und Vizekanzler Deutschlands, Joschka Fischer, warum Europa jenseits von Handel und Wettbewerb zu einer Macht werden muss.

Präsident Trump kritisiert Deutschlands Kanzlerin Merkel regelmäßig für die seiner Sicht nach zu niedrigen Verteidigungsausgaben.
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Die Nato ist erstaunlich überlebensfähig und bereits mehrmals totgesagt worden. Im Moment geht es im Bündnis zu, als hätte ein Fuchs den Hühnerstall betreten. Wildes Gegacker und eine Wolke von fliegenden Federn ist wie üblich die machtvolle europäische Antwort auf die Gefahr. Der Fuchs scheint Emmanuel Macron zu heißen, wobei dies der erste Irrtum ist: Man mag seine Wortwahl vom "Hirntod der Nato" und seine neue Leidenschaft für den Dialog mit Wladimir Putins Russland teilen oder auch nicht – der Autor teilt sie nicht –, in der Sache hat der französische Präsident so unrecht nicht. Er weist die Europäer darauf hin, dass sie, ihre kollektive Verteidigung betreffend, praktische Konsequenzen aus dem Strategiewechsel der USA unter Donald Trump zu ziehen hätten.

Die Nato schien nach dem absehbaren Ende ihrer Mission in Afghanistan bereits schon einmal klinisch tot zu sein, bis Putin mit seiner Okkupation der Krim und seinem Krieg in der Ostukraine kam. Er erweckte das westliche Militärbündnis zu neuem Leben.

Und dann kam Trump. Der US-Präsident hat mit seinem historischen Strategiewechsel Europa quasi den Teppich unter den Füßen weggezogen, indem er die Rolle der USA als globaler Führungsmacht in einem multilateralen, regelbasierten internationalen System beendet und mit seiner nationalistischen Wende in der Außenpolitik deren Neuorientierung eingeleitet hat. Nebenbei erklärte er die Nato noch für "irrelevant"!

Europa ist zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf sich allein gestellt, ohne großen Bruder, den geopolitischen Realitäten entwöhnt. Auf diese rauen Realitäten ist es, nach Jahrzehnten einer klientelen Abhängigkeit von den USA, nicht vorbereitet, vor allem nicht Deutschland, nicht materiell und schon gar nicht mental.

Tiefgreifende Zäsur

Wird es die Nato in 20 Jahren noch geben? Die Wahrscheinlichkeit dafür ist heute geringer als jemals zuvor in ihrer Geschichte. Diese Frage hat kaum jemand nach 1989 gestellt, heute aber stellt sie sich dringlicher denn je, und zwar nicht wegen Paris, sondern wegen Washington! Wenn diese Möglichkeit vom Ende der Nato nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dann wird Europa jetzt daraus die Konsequenzen zu ziehen haben und nicht erst in 20 Jahren.

Europa muss, erzwungen durch Trumps nationalistische Wende, durch Chinas Aufstieg und durch die digitale Revolution, zu einer Macht werden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und da trifft Macron den Nagel auf den Kopf.

Man mache sich allerdings keine Illusionen, für die EU bedeutet ein solcher Schritt eine tiefgreifende Zäsur, denn bisher hat sich die Europäische Union jenseits von Handel und Wettbewerb nicht als Macht gesehen und verstanden und auch keinerlei militärische Machtprojektion betrieben.

Praktische Passivität

Gewiss, die amerikanischen Truppen stehen noch diesseits des Atlantiks und die Nato existiert noch. Noch! Aber all die traditionellen Institutionen und Verpflichtungen in den transatlantischen Beziehungen sind mit zahlreichen Fragezeichen versehen, und über allem hängt, einem Damoklesschwert gleich, die Frage: Wie lange noch? Wann wird es zu dem entscheidenden Tweet kommen, der das Ende verkündet? Es wäre eine sträfliche Torheit Europas, bis dahin nichts zu tun und sehenden Auges auf diesen Tweet zu warten. Exakt darauf weist Paris hin, und Berlin verharrt in der üblichen praktischen Passivität und zieht sich, ebenfalls wie üblich, auf rhetorische Bekenntnisse zurück.

Europa muss sich selbst verteidigen können, und dieses Ziel zu erreichen wird schwer genug werden. Um dieses Ziel in eigenständiger Souveränität erreichen zu können, muss es sich allerdings in den Stand versetzen, technologisch mithalten zu können, die dafür notwendigen Fähigkeiten schaffen und dazu einig und entschlossen genug sein.

Radikaler Bruch

Der sich abzeichnende Bruch in der europäischen Verteidigung, der mit dem Rückzug der USA stattfinden wird, wird sehr viel radikaler ausfallen als gegenwärtig angenommen. Das wird nicht einfach ein kaum spürbarer, gradueller Übergang werden, sondern ein wirklicher Bruch. Wenn man diesen seitens Europas zumindest hinausschieben oder am Ende gar ganz verhindern will, dann wird Europa, genauso wie wenn es zu dem Bruch kommt, erheblich in sein Militär investieren und seine eigenen Fähigkeiten massiv ausbauen müssen. Die Augen vor einer Wirklichkeit, die mit Trump angebrochen ist, zu verschließen und sich die Ohren zuzuhalten wird nicht helfen.

Europa hatte sich in seiner Geschichte über lange Zeit hinweg mit zwei Herausforderungen zu beschäftigen: seiner unruhigen Mitte mit Deutschland und seiner offenen, geopolitisch schon immer offenen östlichen Flanke Richtung Russland und Eurasien. Die Nato bot seit dem Beginn ihres Bestehens Schutz gegenüber beiden Herausforderungen.

Existenzielle Ängste

Je weiter man in Nato und EU Richtung Osten kommt, desto existenzieller werden die Ängste um die Sicherheit unter den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten. Dies hängt ohne jeden Zweifel mit der geografischen Nähe zu und ihrer Erfahrung mit Russland als expansiver, imperialer Macht zusammen, die nicht erst seit der bewaffneten Annexion der Krim und dem Krieg im Osten der Ukraine militärisch als Bedrohung angesehen wird. Für diese Mitgliedstaaten, vorneweg Polen und die baltischen Staaten, ist die Einbindung der USA über die Nato in die gemeinsame Verteidigung bis auf weiteres angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse unverzichtbar, ja aus ihrer Sicht von existenzieller Bedeutung. Die Nato ist die notwendige Rückversicherung angesichts der geopolitischen Risiken an der Ostflanke Europas und dient, gemeinsam mit verstärkten europäischen Sicherheitsanstrengungen, auch der Geschlossenheit der EU.

Trump mit seinem "America first!", seiner nationalistischen Wende in der US-Politik, zwingt die Europäer, sich quasi über Nacht ernsthaft mit ihrer Souveränitätsfrage unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu beschäftigen, was sie aus eigenem Antrieb wohl für lange Zeit noch nicht getan hätten. Er zwingt sie, sich neu zu erfinden. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 4.12.2019)