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Manchmal denkt sich der Pianist Igor Levit: "Boy, ist das schwer, so zu klingen wie du selbst! Es ist das Höchste!"

Foto: AP Photo/Jens Meyer, File

Dass Beethovens Ode an die Freude zur Europahymne wurde, findet Igor Levit "einen schönen Brauch!". Und wenn es immer noch "ein paar Neofaschisten gibt, die sich darüber aufregen, dann freue ich mich! Es gibt ja Leute, die sich im Europaparlament beim Abspielen der Melodie demonstrativ umdrehen", so der russisch-deutsche Pianist. Konsequenterweise hat er auch gegen die Werkinvasion des nahenden Beethoven-Jahres nichts einzuwenden. Humanismus per Klang braucht es immer.

Beethoven und seine Stücke würden es jedenfalls aushalten, dass der Bonner 2020 ob seines 250. Geburtstags (am 17. 12.) ausgiebig gefeiert wird. Interpretation an sich sei ja unerschöpflich. Er, Levit, erlebe das ständig.

Als Beispiel das fünfte Klavierkonzert. Es gibt da die Spielanweisung "dämmernd": "Aber was heißt denn das? Wenn jemand sagt: ,Ich spiele nur, was Beethoven schreibt‘, dann frage ich: ,Was heißt dämmernd?‘ Ich weiß nicht, wie man das spielt. Viel interessanter finde ich, dass Beethoven mit solchen Begriffen zweifelsfrei versucht hat, um einiges freier, undogmatischer zu werden. Ansonsten würde er ja nicht ,dämmernd‘ geschrieben haben."

Er hätte ja auch einfach "piano" oder "tranquillo" fordern können, regt sich Levit ein klein wenig auf, der selbst eher "vom Tag zu Tag" entscheidet, wie er dieser Anweisung folgt. Von der Vorstellung, einem Werk zu dienen, hält er logischerweise nichts, auch wäre da ein grundsätzliches Problem mit dem Dienen: "Niemand sollte irgendwem dienen, außer vielleicht der Verfassung! Das Verneigen vor etwas liegt mir nicht. Wir können nicht von individueller Freiheit schwärmen, uns im Westen auf die Schulter klopfen und im erstbesten Moment, wenn jemand entscheidet, etwas Eigenes zu versuchen, fragen: ,Wie konnte er es wagen?‘ Er muss natürlich mit den Konsequenzen leben, er kann auf die Schnauze fallen. Aber wer soll ihm den Ansatz verbieten?"

Projekt Eigenverantwortung

Insofern ist auch das Sammeln von Wissen über Komponisten für Levit kein zentraler Punkt. "Es ist toll, zu studieren, wer wie war und was er getan hat. Aber ich rede lieber über das Heute, über Eigenverantwortung statt darüber, auf wen ich mich beziehe, der vielleicht nicht mehr am Leben ist. Muss ich aus Dokumenten oder Briefen eruieren, was emotional in einem Komponisten vorging, als er dieses oder jenes geschrieben hat?"

Er habe keine Antwort darauf. "Ich versuche, viel zu lesen, bin neugierig. Ich muss aber als freier Mensch bereit sein, sagen zu können: Ich höre etwas ganz anderes als das, was mir die Dokumente sagen. Man hadert natürlich an diesem Punkt immer. Jemand, der mir sagt, er habe eine klare Meinung, dem glaube ich kein Wort. Ich habe Mitleid mit ihm."

Dies bedeutet nicht, dass Levit dem ungenauen, ungefähren Zugang zum Werk das Wort redet – Beethovens zweite Klaviersonate war über fünf Jahre sein hartes Tagesbrot: "Es gab beinahe keinen Unterricht, ohne dass mein Lehrer nicht in irgendeiner Form die Sonate hören wollte. Ich habe anhand dieses Stücks wirklich Vokabular gelernt." Wobei immer Aspekte existieren, zu denen er Beethoven gerne befragen würde, käme er bei der Tür herein: "Über eine Stelle in der Fuge der Hammerklaviersonate würde ich reden wollen. Sie ruft bei mir immer ein Fluchkonzert hervor!"

"Keine Abspielware!"

Im Grunde ist Levit auch froh, nicht zu wissen, wie Beethoven seine Werke selbst gespielt hat. Und in der Livesituation eines Konzertes ist ohnedies alles unberechenbar; besondere Momente bleiben unkalkulierbar: "Mir ist wichtiger: Ich gehe in ein Konzert, sitze auf der Bühne, egal wo, und dann sind Menschen im Saal. Sie schenken mir das Wertvollste, das sie haben – ihre Zeit. Und sie bezahlen auch noch dafür!"

Dies allein erfordere, "dass ich jeden Abend aus tiefstem Herzen den Anspruch habe, alles zu geben. Das Publikum ist keine Abspielware! Ich kann nicht voraussetzen, dass es da zu sein hat. Ich würde deshalb nie ein Konzert gegen ein anderes ausspielen. Irgendetwas geht immer – bei jedem Konzert. Ich weiß nur nie, was. Ich bin Mensch, und ich bin durchlässig, ich lasse dies auch zu. Dann lebt ein Abend. Ich teile alles – ohne Kalkül."

Ob es gut wird, merkt Levit "während des Konzerts. Man weiß aber auch nie, warum das so ist, und das ist nervig: Ich kriege es nie reproduziert. Es gibt diesen schönen Satz: ,Das Genie ist jener, der klingt wie er selbst.‘ Und ich denke mir: ,Boy, ist das schwer, so zu klingen wie du selbst!‘ Es ist das Höchste, und es gibt Abende, bei denen das Gefühl auch da ist. Dann gehe ich jedoch am nächste Morgen zum Flügel und denke mir: ‚Was ist mein Ton? Wo ist er hin?‘"

Alle Sonaten

Anhand von Beethoven wird er diese Fragen 2020 erörtern. Levit spielt weltweit (auch bei den Salzburger Festspielen) alle 32 Sonaten, die er bei Sonyveröffentlicht hat. Wie er sich selbst sieht, deutet seine Homepage mit den Begriffen "Citizen. European. Pianist" an. Ob diese drei auf Beethoven passen? Levit bleibt reserviert. "Ich habe ihn nicht gekannt, ich gehe aber davon aus." Auch Brahms hat Levit nicht gekannt. Dessen Wesen wird er sich vielleicht aber anhand des zweiten Klavierkonzerts annähern, das er mit der Deutschen Kammerphilharmonie und Paavo Järvi (7., 8. 12.) interpretieren wird. Vielleicht erfährt man aber auch vor allem etwas über Levit. Oder auch nicht. (Ljubiša Tošić, 5.12.2019)