Musik kann shufflen. Köche auch. Nur dass diese Playlist dann auf den Tellern landet. Am 3. Dezember passierte dieser Koch-Shuffle erstmals in 38-facher Ausführung auf sechs Kontinenten. Rezepte und Ideen wurden ausgetauscht. Keiner wusste, von wem er was interpretierte.

Der Name dieses extravaganten Kreativspiels: Gelinaz! Jedes Jahr ist es eines der am sehnlichsten erwarteten Food-Events. Weil anders, weil ohne Regeln. Kreativität, die ungefiltert auf Teller kommt. Deshalb hat Lukas Mraz auch seine weißen Tischtücher mit Graffiti besprüht, Heinz Reitbauer Magic Mushrooms serviert und Philip Rachinger auf dem Amboss Fleisch geteilt.

"Fuck the boring!", hieß es beim ersten weltumspannenden Koch-Shuffle Gelinaz! von Mexiko-Stadt bis an den Gardasee.
Foto: Jürgen Grünwald

Keiner weiß, von wem die Rezepte kommen

Gelinaz! ist der Irrsinn der Gastronomie auf Tellern. Ideen ohne Handschellen, die mit den Köchen und Gästen Party machen. Entsprungen ist die Mutter-Idee dem Kopf von Andrea Petrini und seinem Handy, in dem so gut wie alle Kontakte der Spitzengastronomie stehen. Petrini ist ein Gastro-Macher, auch Journalist, aber hauptsächlich Querdenker. Für 2019 hat er also 148 Köche in 38 Ländern angerufen, jedem vom jeweils anderen Rezepte geschickt. Quasi Rezepte-Wichteln zur Vorweihnachtszeit betrieben.

Denn keiner wusste, von wem die Rezepte kamen, die wohlgemerkt interpretiert und niemals nachgekocht wurden! Erst nachdem Entenblut aufgegessen und die Kürbisbong aufgeraucht war, kam die Auflösung, von wem die Gerichte-Ideen stammten. Instagram ist mit 2.200 gestreamten Rezepten und zigfachen Storys dazu nur fast explodiert, auch in San Francisco, dem zeitzonenbedingten letzten Shuffle der Gastro-Playlist, ist Gelinaz! jetzt schon eine Erinnerung.

Dalad Kambhu, Restaurant Kin Dee in Berlin shuffelte Jang Jinmo, Restaurant Myomi, Seoul

Jürgen Schmücking war für den STANDARD bei Dalad Kambhu zu Gast. Sie shuffelte Myomi in Seoul.
Foto: Jürgen Schmücking

Acht Gänge, die zwar nicht aus ihrer Feder stammen, aber dennoch ihre Handschrift tragen. Dalad Kambhu, gebürtige Thailänderin und ehemaliges Model, hat sich ordentlich ins Zeug gelegt und ein beeindruckendes Menü gezaubert. Am Anfang gleich zwei Paukenschläge. Zuerst gebratene Kräuterseitlinge, in Dachsfett (ja, in Dachsfett) gebratener Tofu und Topinambur, danach gleich Fisch. Marinierte und zart angebratene Rotbarbe im Soja-Kimchi-Sud mit chilischarfem Sauerkraut. Als Hauptgang versteckte sich eine Frikadelle – medium rare – unter einem gedünsteten Kohlblatt. Mit Chilischoten gefüllt. Wir sind ja schließlich beim Thailänder. Jürgen Schmücking ist freier Autor und Fotograf in Schwaz in Tirol.

Lido84, Gardone Riviera shuffelte Jowett Yu, Restaurant Ho Lee Fook aus Hongkong

Beinahe hätte Riccardo Camanini die Nerven weggeschmissen, als er die Speisen- und Zutatenliste von seinem Kollegen Jowett Yu vom Hongkonger Restaurant Ho Lee Fook erhielt. "Da stand lauter mir fremdes Zeug drauf, von dem ich keine Ahnung hatte, wo ich es auftreiben sollte", erzählt der aufstrebende Star unter Italiens Köchen, "wie etwa 'Shaoxing wine' oder ‚chicken powder'."

Schließlich ging der Besitzer des Restaurants Lido 84 am Westufer des Gardasees die Sache dann doch entspannter an – indem er einiges einfach wegließ. "Darunter allzu Exotisches und irrsinnig viel Chili", so Camanini, "aber leider auch den Knoblauch." Ihn nämlich verweigern die meisten seiner italienischen Gäste. Selbst jene, die abenteuerlustig genug waren, sich auf den Gelinaz!-Abend einzulassen.

Georges Desrues ist freier Autor in Triest


Philip Rachinger, Mühltalhof, Neufelden shuffelte Matt Orlando, Restaurant Amass, Kopenhagen

Das ist Philip Rachingers Interpretation von Blauschimmelkäse und Nori aus Matt Orlandos Restaurant in Kopenhagen.
Foto: Jürgen Grünwald

Zwei Jahre nachdem Spitzenköche wie René Redzepi und Ana Roš gemeinsam in der oberösterreichischen Mühl geschwommen waren, hieß es wieder: Gelinaz!

Auch der Mühltalhof, Ort des Geschehens 2017, war mit dabei. Und Chefkoch Philip Rachinger shufflete Karpfen mit Quittenmost, Entenblut mit Hausbrot und zuletzt eine Matrix-Topfengolatsche. Matt Orlando vom Restaurant Amass in Kopenhagen steckt hinter den Rezepten.

Ob die Kombi aus Nori, Bärlauch und Blauschimmelkäse bei Orlando auch in Knödelform daherkommt, bleibt dahingestellt. Aber wir sind ja im Mühlviertel, und es ist Gelinaz!. Jeden Tag grillt nämlich auch Rachinger seine Hasenfilets nicht über dem Amboss in der ehemaligen Kunstschmiede gegenüber vom Restaurant. Nina Wessely ist Kulinarikredakteurin des STANDARD

Philipp Rachinger im Mühltalhof.
Foto: Nina Wessely
Mühltalhof
Foto: Nina Wessely
Mühltalhof
Foto: Nina Wessely

Vladimir Mukhin, Restaurant White Rabbit, Moskau shuffles Pascal Barbot, Restaurant L' Astrance Paris

Wie in einem Krimi von Agatha Christie, in dem alle rätseln, wer Mr. Black gekillt hat, nähern sich Vladimir Mukin und seine Gäste dem Koch, von dem an diesem Abend die Rezepte für die 20 Gelinaz!-Gäste stammen.

Ein Mille-feuille aus Champignons mit Foie gras war schließlich der entscheidende Hinweis, der Pascal Barbot aus dem Restaurant L’Astrance in Paris fand. Muhkin interpretierte dieses Gericht von Barbot, indem er feine Apfelscheiben und eine Portweinmarmelade hinzufügte. Das R-’n’-B-Lied Big Booty-diente als Soundtrack, während Mukhin löffelweise Kaviar in die Münder der Gäste schob. Es gab Neon, bunte Lichter, brennendes Benzin auf dem Tisch und das, was man sich von einem Gelinaz!-Abend erwartet: Spaß, Spiel und Humor. Liliana Lopez ist freie Autorin in Mexiko-Stadt.

Liliana Lopez, freie Autorin in Mexico City


Lukas, Marcus und Manuel Mraz, Mraz&Sohn, Wien shuffelten Heinz Reitbauer, Steirereck, Wien

Der Abend soll beginnen, die Gastgeber fehlen: "Sind beim Lidl einkaufen", steht an der Tür von Mraz & Sohn. "Jetzt gemma uns einmal einrauchen", sagt Maître d’ Manuel, als die Mraz zurückkehren, und heizt Kürbisbongs an. Sind dann aber eh nur Küchenkräuter, die den Kürbistascherln im Inneren einen rauchigen Aromenkick verpassen.

Essen bei Mraz & Sohn
Foto: Gennady Jozefavichus

Als Lukas Mraz Gulasch (dicht, gallertig, mit dem Funk gefriergetrockneter Erdbeeren köstlich aufgeladen) und Pilze in Limonata-Zitronen-Butter (aus der Schönbrunner Orangerie) aufträgt, geht ein Raunen durch die Meute. Die Ahnung wird Gewissheit, als um 21.45 Uhr gelüftet wird, welche Rezepte den Mraz’ als Matrix vorlagen: Steirereck. "Haha, dort wäre es heute billiger gewesen", brüllt Lukas Mraz. Aber eher nicht so lustig. Severin Corti ist Restaurantkritiker des STANDARD


Oswaldo Oliva, Restaurant Lorea, Mexiko City shuffelte Gunnar Karl Gíslason vom Dill Restaurant in Reykjavík, Island

Nach Island wollte ich schon immer. Und dann shufflen wir in unserem Lokal Gunnar Karl Gíslason vom Dill Restaurant in Reykjavík, Island. Schnell war klar: Wir interpretieren seine Gerichteideen als isländische Landschaften. In Mexiko. Unseren Einsteiger "Salbute", frittierte Tortilla, haben wir mit den Worten serviert: "Das ist das einzige Mexikanische, das ihr heute essen werdet."

Lorea war es trotzdem. Das sage nicht ich, sondern unsere Gäste. Einige von ihnen waren dabei, als wir vor drei Jahren aufgesperrt haben. Bei Gelinaz! haben wir Zwiebel mit Kaviar und Fenchel mit Sellerie gegessen. Es war fast wie ein Familienfest, bei dem wir alle gemeinsam in Jeans, Perücken, mit einem Garten am Klo, besprühten Wänden und Feuerwerk isländisch-mexikanisch gefeiert haben. Elizabeth Chichino ist General Manager im Restaurant Lorea

(Nina Wessely, 5.12.2019)