Im Gastkommentar widerspricht der Politikwissenschafter Felix Butzlaff dem burgenländischen Landeshauptmann. Butzlaff zufolge ist die politische Erzählung das Dach, unter dem politische Maßnahmen erst Sinn ergeben. Das Narrativ vom Streben nach bescheidenem Wohlstand für alle habe den Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung weitgehend aufgegeben.

Narrativ! Er könne das Wort nicht mehr hören, wird Hans Peter Doskozil im STANDARD vom 29. 11. zitiert. Da erzähle man den Leuten Geschichten, wo es in der Politik doch um Glaubwürdigkeit gehe. Eine Sozialdemokratie, die sich in Narrativen verliere, sei "ideologisch hochtrabend" und voll von "Elitedenken". Und dann schildert er, wie er die SPÖ im Burgenland interpretiert, und das ist: nichts anderes als ein Narrativ.

Will "Glaubwürdigkeit rüberbringen" und mag keine Narrative: Hans Peter Doskozil.
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Wenn man Narrative als manipulatives Geschichtenerzählen und elitäres Märchenonkeln abtut, dann verkennt man nicht nur hundertfünfzig Jahre sozialdemokratischer Organisation, sondern auch, wie politisch Mehrheiten gesammelt werden. Denn das Erzählen steht im Zentrum, wenn sich Menschen für eine bessere Gesellschaft oder die Abwehr einer Bedrohung zusammentun.

Blick auf die Geschichte

Dass die Arbeiter im 19. Jahrhundert gemeinsam als soziale Klasse unter einer kapitalistischen Entfremdung litten, dass sie das moralische Recht besaßen, mit ihrer Produktivkraft ein besseres Morgen zu schaffen, war keine Natur oder Selbstverständlichkeit, sondern – ein Narrativ. Dass ökonomische Ungleichheiten destruktiv; dass Bildung und Aufklärung wünschenswert; dass öffentliche Dienstleistungen wichtig sind – all das sind seither Teile einer sozialdemokratischen Erzählung. Und in der Folge: ihrer Regierungspraxis.

Jedes politische Projekt und jede Umsetzung politischer Vorhaben (die ja auch Doskozil für die SPÖ Burgenland in Anspruch nimmt) bauen auf einer Erzählung auf, die verdeutlicht, was gut und richtig – und was falsch und abzulehnen ist. Sie unterstreicht, was das politische Ziel ist, wo man hinmöchte und warum. Eine politische Erzählung ist das Dach, unter dem politische Einzelmaßnahmen Sinn ergeben, die ansonsten unverbunden für sich bleiben.

Grundlage für Zusammenhalt

Und mit einem Blick auf die Geschichte der sozialdemokratischen Bewegung muss man konstatieren: Ohne Narrativ hätten sich der Drucker, der Schriftsetzer und die Wäscherin nie als stolze Subjekte einer gemeinsamen Klasse von Entrechteten empfunden. Und ohne eine politische Erzählung werden sich auch der Handwerker im Burgenland, die Vorarlberger Verwaltungsangestellte und die Wiener Supermarktkassiererin nicht als Teil eines gemeinsamen Projekts begreifen. Es geht dabei nicht um das elitäre Ausbuchstabieren einer Parteiprogrammatik oder um eine politische Marketingkampagne, sondern vor allem um Gemeinsamkeit als Grundlage für Zusammenhalt. Nur durch das Narrativ, so könnte man zusammenfassen, werden Befreiung und Emanzipation denk- und umsetzbar.

Doskozil interpretiert die burgenländische Sozialdemokratie so, dass ein jeder "das Beste für seine Kinder und für sich selbst wolle", nämlich: "einen gewissen Wohlstand" – und dass man einfach diese Bedürfnisse bedienen müsse, weil alles andere "die Leute doch nicht interessiere". Einerseits naturalisiert er damit politische Forderungen (weil eh klar sei, was die Leute wollten) und zeigt andererseits ein grundsätzlich entpolitisiertes Verständnis von Sozialdemokratie (weil man darüber ja nicht diskutieren müsse). Darum müsse man über Erzählungen nicht fantasieren.

Schröders dritter Weg

Dass das Ziel sozialdemokratischen Strebens die Verwirklichung des Eigenwohlinteresses eines jeden Einzelnen sein sollte, dass es nicht um links oder rechts, sondern nur darum gehe, das zu tun, was Menschen bereits wünschten – das erinnert an zwei Vorbildnarrative des radikalen Pragmatismus: zum einen an das Diktum des deutschen Dritte-Weg-Kanzlers Gerhard Schröder, er kenne nun nicht mehr linke und rechte Wirtschaftspolitik, sondern lediglich moderne oder unmoderne. Genau diese Perspektive erscheint allerdings aus heutiger Sicht als eine der Hauptursachen einer zunehmend sprach- und gestaltungsunfähigen Sozialdemokratie. Denn ein vermeintlich feststehendes und nicht begründungspflichtiges Ziel einer "guten" Politik ist gleichzeitig die Aufgabe jedweden emanzipatorischen oder gesellschaftsverändernden Anspruchs sowie die Einbetonierung eines Status quo.

Zum anderen aber erinnert es an die Vorstellung von (Rechts-) Populisten, es komme in einer Demokratie darauf an, die Wünsche und Forderungen des Volkes möglichst unverfälscht umzusetzen. Und da das Volk kaum mit einer vernehmbaren Stimme sprechen kann, ist es darin auf einen entschlossenen politischen Führer angewiesen, der die bereits bestehenden und unverhandelbaren Grundsätze in Politik übersetzt.

Bessere Zukunft

Gerade sozialdemokratische Anhänger aber, das unterscheidet sie eben von Liberalen und auch Konservativen, wollen das Gefühl haben, für die Gesellschaft insgesamt, nicht nur für sich selbst, eine bessere Zukunft aufzubauen. Dieses Ziel aber ist immer offen und muss stets aufs Neue konkretisiert werden. Parteien, gerade sozialdemokratische, haben eben nicht nur den Anspruch, die Gesellschaft abzubilden, sondern ganz dezidiert an der Willensbildung mitzuwirken. Dies bedeutet aber, begründen zu müssen, wie und warum eine Gesellschaft auszusehen hat – sie zu erzählen, um dadurch Mehrheiten für deren aktive Gestaltung zu sichern.

Die Erzählung von der Glaubwürdigkeit, die man bekomme, wenn man den Menschen zuhöre, und vom "Hausverstand" des Strebens nach bescheidenem Wohlstand ist genau dies: ein Narrativ. Aber eben eines, das den Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung weitgehend aufgegeben hat. Denn wenn die Grundlage für einzelne Entscheidungen nur das bereits Bestehende ist, bleibt auch die mögliche Veränderung auf diesen Horizont beschränkt.

Rote Sprachlosigkeit

Natürlich waren, wie auch Doskozil anmerkt und damit einen wunden Punkt der zeitgenössischen Sozialdemokratie trifft, erfolgreiche Parteiführer gerade deshalb überzeugende Erzähler, weil sie eine intime Kenntnis der konkreten Lebenslagen, Nöte und Hoffnungen von Menschen besaßen. Dass Parteifunktionäre und Parlamentsklubs der Sozialdemokratie in ganz Europa sozial immer homogener geworden sind, hat deswegen zur derzeitigen Sprachlosigkeit der gesamten Parteienfamilie beigetragen. Es fehlt sicher, hier liegt Doskozil richtig, an einer Sensorik für soziale Realitäten.

Dass aber die Sozialdemokratie in ganz Europa als ideenlos und gestaltungsunfähig wahrgenommen wird, hat ganz gewiss nicht damit zu tun, dass eine dogmatische Parteielite zu viel erzählen würde – im Gegenteil. Und die Kur liegt ganz bestimmt nicht darin, Diskussionen über die gesellschaftliche Zielvorstellung aufzugeben. (Felix Butzlaff, 6.12.2019)