Marx oder Streik lautet die Parole von Demonstranten in der französischen Hauptstadt Paris.

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Was an diesem Morgen am meisten auffällt in Paris: die Stille. Auf der Einfallachse N20 gibt es keinen Stau, kein Hupkonzert. Die Pariser Medien hatten Hunderte von Kilometern Autokolonnen um die französische Hauptstadt vorausgesagt, ein Verkehrschaos schlimmer als beim letzten großen Pensionsstreik von 1995. Doch nun rollt der Verkehr flüssiger denn je in die französische Hauptstadt hinein.

Dafür gibt es nur eine Erklärung: Die Pariserinnen und Pariser haben sich auf den Aktionstag eingestellt und vorbereitet. Mariam, Julie und Marie-Elodie, drei Angestellte der Tageskrippe Kangourou, hatten Schlafsäcke mitgebracht und verbrachten die Nacht dort, wo sie sonst die Babys wickeln. "Lieber ein fröhlicher Pizzaabend am Arbeitsplatz als eine Stunde lang am Bahnsteig zu frieren und dann im Zug eingepfercht zu sein wie die Sardinen", meint Praktikantin Mariam.

Am früheren Südtor von Paris, der Porte d'Orléans, flitzen E-Scooter und Fahrräder vorbei. Sogar ein Rollstuhl ist unterwegs – sein Fahrer holt aber nur ein Croissant aus der Bäckerei. In den wenigen Autos sitzen stets mehrere Personen – organisiert durch den Mitfahrdienst Blablacar oder den Fahrtenvermittler Uber. Und das sind nur die beliebtesten Apps dieses speziellen Pariser Tages: Moovit, Citymapper, Waze, Geovelo, Lime oder Velib sorgen für Ersatz für die mehrheitlich geschlossenen Metrolinien.

Apps als Streikbrecher

Wenn die Gegner von Macrons Rentenreform gehofft hatten, in Paris Stau, Frust und Chaos auszulösen, um die Staatsführung unter Druck zu setzen, müssen sie nun einsehen: Die Handy-Apps urbaner Mobilität sind die wirksamsten Streikbrecher. Nach dem Motto: Stell dir vor, in Paris wird gestreikt, und die Leute zucken nur noch mit den Schultern.

Stille auch im Bahnhof Montparnasse. Dort, wo an normalen Wochentagen Zehntausende von Pendlern zum Arbeitsplatz hasten, herrscht nun gähnende Leere. Das heißt: Viele haben umdisponiert, haben einen freien Tag genommen, überschüssige Stunden abgebaut oder den Esstisch zu Hause in einen Schreibtisch verwandelt. Zwei Auskunftspersonen der Bahn SNCF erklären auf Nachfrage, warum sie nicht streiken: "Wir haben keinen privilegierten Status wie die Lokführer, die mit 52 in Rente gehen", sagt eine der beiden.

In der Bahnhofsbäckerei langweilt sich die Verkäuferin mit der weißen Kochmütze. Das heißt nicht, dass sie gegen den Streik ist: "Ich bin nicht eifersüchtig auf die großen Vorteile der Lokführer – sie kämpfen für uns alle." Menschenleere auch bei der Universität Tolbiac, dem "linken" Ableger der Sorbonne, hier im Südosten von Paris. Die rebellische Fakultät ist auf Weisung von oben geschlossen. "Haben sie Angst?", fragt die trotzkistische Splittergruppe "Révolution permanente" auf ihrer Homepage: "Der Machtkampf hat heute Morgen begonnen." Studenten sind allerdings nicht in Sicht. "Die kommen erst am Nachmittag, wie die Polizei", informiert ein frierender Obdachloser über sein Morgenbier hinweg.

"Erst der Anfang"

Am Nachmittag kommt effektiv Leben in die Stadt, die bisher so ruhig war wie sonst nur in der langen Sommerpause. Beim Ostbahnhof, dem Gare de l'Est, versammeln sich Zehntausende von Eisenbahnern, Lehrern, Metro-, Spital- und Elektrizitätsangestellten, Polizisten, Fluglotsen, Anwälten. Um 14 Uhr setzt sich ein Menschenmeer in Bewegung Richtung République, dann zur Place de la Nation. Die Entschlossenheit ist mit Händen zu greifen. "Dieser Streik wird heute Abend nicht zu Ende sein", warnt Philippe Martinez von der ehemals kommunistischen CGT, von denen einzelne Mitglieder immer noch Hammer und Sichel auf ihren Transparenten mitführen und zum Generalstreik aufrufen.

Derweil erklärt Macrons Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye im Elysée-Palast, die Verhandlungen seien "eröffnet". Das riecht nach ersten Konzessionen. Martinez geht nicht darauf ein: "Donnerstag war erst der Anfang." Die Metrobetriebe RATP haben ihren Ausstand bereits bis Montagabend verlängert. Zahllose Flüge werden auch in den kommenden Tagen ausfallen. Am Samstag wollen zudem die Gelbwesten ein weiteres Mal in Aktion treten.

Sie wissen, die Zeit spielt für sie: Einen Tag lang können die Franzosen Auswege finden. Aber eine ganze Woche lang? Gar drei Wochen? Solange brauchte Premier Alain Juppé 1995, bis er einknickte und seine Rentenreform zurückzog. Und Macron? (Stefan Brändle aus Paris, 5.12.2019)