Als Handke in Graz an den "Hornissen" schrieb, ein Jus-Student mit zwanzig Jahren, lernte er in einer Vorlesung die "Ethik" des Spinoza kennen. Man versteht, dass die heute jungen Romanschriftsteller den Handke angreifen, mit Jugoslawien, wo sich niemand so genau auskennt, und es gut und billig ist, das zu tun.

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Die Nobelpreis-Verleihung an Peter Handke ist die zweite weltweit größte Auszeichnung für einen Vertreter der österreichischen Literatur nach 1945. Elfriede Jelinek sagte sogar, Handke hätte den Preis zehnmal verdient. Und Handkes Deutschprofessor hatte zu ihm gesagt, wenn man mit fünfzehn solche Aufsätze schreibt, bekommt man mit fünfzig den Nobelpreis.

Bei der Verleihung des Preises an Peter Handke braucht man Leben und Schreiben nicht zu trennen. Es dürfte wenige Autorinnen und Autoren geben, bei denen das eine und das andere enger und selbstverständlicher zusammengehören als bei Handke.

Wie sollte man das ausgerechnet bei einem Verehrer des Baruch de Spinoza tun, für den es nur die eine denkende Substanz gibt, die die Welt ist. Und außerdem ist Handke im Schreiben auch Kafka, denn er hat sich durch ihn hindurchgeschrieben, ist durch ihn hindurchgegangen und geht noch immer mit ihm und in ihm durch die Welt seiner Bücher.

Kafka

Eines der vielen Weltereignisse der österreichischen Literatur nach 1945 ist Handkes Kafka-Lektüre, seine Verwandlung des Werks von Franz Kafka in ein Organon der Befreiung, ohne zu vergessen, welches Wissen auf dem Grund von Kafkas Schreiben liegt. Ein Schauplatz dieser befreienden Verwandlung ist die letzte Seite von Kafkas Der Prozeß. K. sieht von der Hinrichtungsstätte aus ein Fenster in einem Haus sich öffnen.

"Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel" auseinander, und "ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und in der Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme weiter aus." Und erst da beginnt er zu fragen, stellt all die Fragen, die er nicht gestellt hat und hätte stellen müssen. Einer der Henker kommentiert seinen Tod – "Wie ein Hund!" Und dann der Schlusssatz, "es war, als sollte die Scham ihn überleben".

Handkes Schreiben geht von dieser "Scham" aus – und von K.s Fragen. Sein Werk ist eine erzählerische Enzyklopädie des Fragens, er fragt und fragt, und das Fragen wird zu einer auch sich selber ins Wort fallenden Bewegung, ein Dahinfragen und Sich-durch-die-Welt Fragen, das unser Denken rhythmisiert, beweglich macht, geistreicher, auch wenn er sich dabei manchmal verirrt.

Und der "Ruck", ein Wort aus der Schlusspassage von Kafkas Roman, wird ebenso wie das "Licht", das aufzuckt, durch Handkes Erzählen weiterscheinen – "Fahrzeug Licht" nennt er sein Erzählen –, und den "Ruck", der durch K. geht, nennt er in seinen Büchern "Lebendigkeitsruck", "Gegenwartsruck" oder "Freuderuck".

Spinoza

Es weht uns in Handkes Büchern, wie Ernst Bloch das von Spinoza sagte, ein besonderer Atem an, und das schon im ersten Roman Die Hornissen (1966). Was für ein unerschöpflicher Roman, ein wenig in sich verschlossen wie Spinozas Ethik (die man besser versteht, wenn man Handkes Übersetzung liest, jedenfalls die von ihm übersetzten Teile).

Als Handke in Graz an den Hornissen schrieb, ein Jus-Student mit gerade einmal zwanzig Jahren, lernte er in einer rechtsphilosophischen Vorlesung die Ethik des Spinoza kennen. Man versteht, dass die heute dreißig oder vierzig Jahre jungen Romanschriftsteller den Handke angreifen, mit Jugoslawien, wo sich niemand so genau auskennt, und es gut und billig ist, das zu tun.

Jugoslawien

Handke kennt Jugoslawien, auch aus den familiären Beziehungen. Es war ein anderes Jugoslawien, in das der junge Filip Kobal, ein Träumer und angehender Schriftsteller, seine Maturareise Anfang der 60er-Jahre unternahm.

Damals war wahrscheinlich noch mehr von dessen politischer Idee zu erkennen: hervorgegangen aus dem Partisanenkampf, ein Staat, dessen Verfassung sich an der Pariser Kommune und an der Räterepublik in Deutschland orientierte, die Produktion von selbstverwalteten Betrieben bestimmt, in der sich die Frage des Zusammenhalts in einem Staat mit mehreren slawischen Nationalitäten und im politisch-ökonomischen Bereich stellte, und Jugoslawien war ein blockfreies Land.

Dem Träumer Filip Kobal kam dieses Land entgegen, er fand es, wie er es finden wollte, und er fand dort, was er suchte. Dort lernte er auch das Arbeiten, aber nicht in einem selbstverwalteten Betrieb, denn in Handkes Büchern lernen die Männer bei den Frauen das Arbeiten, und sie suchen, anders als die Männer bei Kafka, selber die Tür, nein, sie suchen gar nicht erst, sondern gehen hinein (Zurüstungen für die Unsterblichkeit).

Jean Améry

Filip Kobal lernte in einem Karstdorf bei einer alten, ein wenig verloren wirkenden Frau, der "Karst-Indianerin", zu arbeiten und merkte dabei, wie er sich vom Arbeitsdiktat seines Vaters befreite. Die vielen Formen der Darstellung der menschlichen Arbeit in Handkes Büchern ist kaum jemals Gegenstand der Aufmerksamkeit geworden, obwohl die Frage der gesellschaftlichen Form des Arbeitens nach 1945 eine besondere Bedeutung bekam, nachdem der Arbeitszwang des Faschismus die deutsche Arbeitsideologie in die Katastrophe geführt hatte.

In seiner großen Studie Deutschland und die Deutschen, die Jean Améry 1945 nach der Befreiung aus dem KZ schrieb, wollte er erklären, warum wo etwas wie Vernichtungslager unter halbwegs gebildeten Menschen möglich war und funktionieren konnte. Er fand im deutschen Arbeitszwang den Grund und in der damit verbundenen Unfähigkeit, sich freuen zu können. Der deutschen Arbeitskultur habe "alles Leichte, Spielerische, das wundervolle ‚Laissez faire‘ der romanischen Völker" gefehlt, und diese "Unfähigkeit zur Freude" sei "das Resultat des Fehlens eines vernünftigen, diesseitigen Lebenssinns."

Allein im Gesichtsausdruck wirke ein junger Engländer "im Gegensatz dazu fast immer fröhlich, zufrieden, beinah kindlich". Amérys Gedanken zur deutschen Arbeitskultur lesen sich wie ein sozialpsychologischer Kommentar zu Handkes "Manifest" für die Beatles. Amérys "Versuch über das Unglücklichsein" stellt auf andere Weise ein Pendant dar zu Handkes "Versuchen":dem Versuch über die Müdigkeit, über die Jukebox oder über den geglückten Tag.

In Handkes "Märchen aus den neuen Zeiten", Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), ruft der Sänger wie nach einem Popkonzert die verschiedensten und doch miteinander verbundenen "Mitspieler" auf: "John Lennon, Liverpool. – Van Morrison, Dublin […]. – Blaise Pascal. – Baruch Spinoza, der davon sang, daß die Weisheit des Menschen nicht ein Nachdenken über den Tod, sondern allein das Leben ist!"

Solche heiteren Mesalliancen in seinem Werk könnte man mit einem Wort des späten Goethe "sehr ernste Scherze" nennen. Zum Beispiel, dass Don Juan in Don Juan(erzählt von ihm selbst) (2004) sein Refugium "zufällig" in der Nähe der Ruine eines zerstörten Frauenklosters aufgeschlagen hat, in der einmal die häretische Mystik ihr Refugium fand.

Handkes Werk ist ein Kompendium der Erinnerung an die Mystik, von Teresa von Avila im Bildverlust bis zu Simone Weil, die er mit einem Satz zitiert, an den der Autor in letzter Zeit manchmal gedacht haben mag: "Jedes Wesen ist ein stummer Schrei, anders gelesen zu werden."

Der Traum von der Desertion

Am Beginn des Jahres 1963 erzählte Peter Handke seiner Mutter in einem Brief einen Traum. Es ist ein Traum von der Desertion ihrer beiden Brüder, Gregor und Hans, die 1943 im Krieg gefallen sind. Im Traum erwartet der eine Kriegsflüchtling auf einer Lichtung den Bruder.

Aber am Himmel tauchen Bombenflugzeuge auf, die schon an zukünftige Kriege denken lassen und ihn erschüttern: "Da faßte ihn ein Jammer und schüttelte seinen ganzen Körper. Es war ja Krieg, dachte ich. Gleich als ich erwachte, fiel mir ein, das muß ich Dir in einem Brief heute schreiben. Ich überlegte alles noch einmal von Anfang bis Ende, um nichts zu vergessen, aber auch um nichts zu erfinden, und was an Vergleich in dem erzählten Traum ist, das schrieb ich nur zum Veranschaulichen."

Es ist die Geschichte, die sich als Familienmythos in immer wieder neuen Wiederholungen durch sein Werk zieht, bis zur bisher ausführlichsten, am meisten politischen Variante in Immer noch Sturm, dessen Titel ein Zitat aus Shakespeares Ein Wintermärchen ist. Auch die Aufmerksamkeit für die "Form" der Traumerzählung und die Regeln ihrer Wiedergabe wird dem Autor nie verloren gehen.

Gregor? Benedikt?

Der Roman Die Hornissen, den der Sohn in dem Jahr, an dessen Beginn die Traumerzählung steht – wie sollte man hier Leben und Werk trennen können! –, schrieb, hat als Motto einen altgriechischen Orakelspruch, der später in Der Bildverlust (2002) mit einer leichten Versetzung der Bestandteile des Satzes wieder aufgenommen wird: "DU WIRST GEHEN / ZURÜCKKEHREN NICHT STERBEN IM KRIEG". Am Beginn sieht man den Ich-Erzähler von außen durch die Scheibe im Zimmer der ärmlichen Keusche auf dem Bett sitzen, die Arme gekreuzt und auf dem Rücken in das Hemd gekrallt.

Er heißt Gregor Benedikt, Gregor ist der Name des Vaters der Mutter und des einen Bruders, der im Krieg gefallen ist und auf einem Auge blind war. Handkes erste publizierte Erzählung in der Kärntner Volkszeitung ist die Erzählung von einem jungen Mann, der einmal schreiben wird und sich, um zu einem anderen Sehen zu gelangen, die Augen aus dem Kopf reißt. In Griffen sind sowohl der Vorname wie der Familienname geläufig.

Der junge Dörfler ist aber bereits im Geiste der Literatur getauft: Gregor heißt auch der Held von Kafkas Die Verwandlung. In Handkes Werk aber wird es um eine ganz andere, gegenläufige Verwandlung gehen. Benedictus de Spinoza nannten die christlichen Verehrer den häretischen jüdischen Philosophen, dessen Name immer wieder in den Texten aufglänzen wird, und wenn nicht sein Name, dann wird er im "leukein" der Handke-Sprache gegenwärtig bleiben, wie bei Goethe, Hölderlin, Heine, Nietzsche oder Ernst Bloch. Das Wort "leukein" meint ein belebendes, aktivierendes Licht, wird in Der Chinese des Schmerzes (1983) erklärt.

Paul Celan

Und was noch zu erwähnen ist: Im Werk Handkes verdrängen Spinoza und Kafka nicht die vielen anderen Textstimmen, sodass sie daraus hervorfunkeln oder wirklich als Gestalten in Erscheinung treten. In Die Wiederholung (1986) sieht Filip Kobal vor einem Karst-Gasthof "unter dem Portal" den gesuchten Bruder, der aber im geheimen Sprachbild der Farbe der Augen an den Dichter Paul Celan denken lässt.

Man beachte hier auch den historischen Takt, mit dem Handke das Verhältnis von Nähe und Ferne zu dem jüdischen Dichter Paul Celan darstellt: "Die Augen des Burschen, waren von dem schwärzesten Schwarz […]. Unbeweglich standen wir einander die Ewigkeit lang gegenüber, in der Entfernung, unerreichbar, unansprechbar, vereint in Trauer, Gelassenheit, Leichtsinn und Verlorenheit.

Ich spürte die Sonne und den Wind an den Stirnknochen, sah das festliche Treiben beidseits des dunklen Durchlasses mit dem Bruderbild und wußte mich in der Mitte des Jahres." (Hans Höller, 7.12.2019)